Was
ist eine Versammlung nach Art. 8 GG?
v.
i. S. d. P. reinhart.vowinckel@web.de
http://
vowinckel.blogspot.de 02.11.2015
Am
vergangenen Mittwoch fand die erste von vier geplanten Sitzungen des
Stuttgarter Verwaltungsgerichts zum blutigen Polizeieinsatz gegen die
Großdemonstration zu S21 im Schlossgarten vor fünf Jahren statt.
Weitere Verhandlungstage sollen der 11.11., der 18.11. sowie der
25.11.2015 (jeweils ab 10.00 Uhr) sein. Das VG hat dazu am 29.09.,
also pünktlich zum 5. Jahrestag der Ereignisse, eine
Pressemitteilung herausgegeben, in der u. a. die Klagebegründung von
Opfern des Polizeieinsatzes kurz umrissen wird:
„Die Kläger, die fast alle bei dem Polizeieinsatz verletzt
wurden, möchten im Wesentlichen vom Gericht festgestellt haben, dass
die Aufforderung der Polizei, bestimmte Bereiche des Schlossgartens
zu verlassen sowie die Androhung und Anwendung des unmittelbaren
Zwangs durch Einsatz von Wasserwerfern, Schlagstock und Pfefferspray
rechtswidrig waren. Zur Begründung tragen sie im Wesentlichen vor,
sie seien Teilnehmer einer friedlichen Versammlung gewesen. Der durch
die Polizeibeamten ausgesprochene Platzverweis sei rechtswidrig
gewesen, da die Auflösung der Versammlung nicht wirksam angeordnet
worden sei. Schon aus diesem Grund seien die Androhung und Anwendung
der Zwangsmittel unzulässig gewesen. Im Übrigen sei der Einsatz von
Wasserwerfern, Schlagstöcken und Pfefferspray unverhältnismäßig
gewesen. Insbesondere sei das gezielte Ausrichten des Wasserstrahls
der Wasserwerfer auf einzelne Personen angesichts der fehlenden
Gefahrenlage völlig überzogen gewesen.“
Zur
Erwiderung
des Landes heißt
es lediglich:
Dem ist das beklagte Land in allen Punkten entgegengetreten.“
Position
und Argumentation der klagenden Opfer des Polizeieinsatzes sind seit
Langem bis in die Details öffentlich und bekannt. Die Position des
Landes bzw. seine Begründungen sind es jedoch nicht. Warum hat das
Gericht im Dienste der Transparenz und Demokratie nicht auch sie
zusammengefasst und veröffentlicht, um jedem Versuch einer
Überforderung und Überrumpelung der Öffentlichkeit nach
Möglichkeit entgegen zu treten? Ohne Transparenz keine Demokratie.
„Das beklagte Land“, das sind gegenwärtig SPD und GRÜNE. Ob
sich GRÜNE UND SOZIALDEMOKARTEN in dem anstehenden Verfahren
tatsächlich hinter die CDU der Ministerpräsidenten Oettinger und
Mappus stellen, könnte spannend werden.
Der
Gewinn an Transparenz dürfte wichtiger sein als die (ohnehin nur
vorläufige) Entscheidung des Richters. Laut Stuttgarter Zeitung hat
er am ersten Verhandlungstag gesagt: „Wenn die Zusammenkunft im
Schlossgarten eine Versammlung war, dann war der Einsatz
rechtswidrig.“ Eine mysteriöse Bemerkung! Ist das denn nicht
klar? Sie dürfte bedeuten, „das Land“ behauptet, bei der
Kundgebung habe es sich nicht um eine friedliche Versammlung mit
Demonstrationscharakter gehandelt, sondern „die
Demonstranten hätten mithilfe der Aktion zu einer
selbsthilfeähnlichen
Durchsetzung eigener konkreter Forderungen angesetzt“(vergl.
unten Frankfurt
Air
Base-Urteil Abs. 35), was
so viel wie Faustrecht oder Selbstjustiz bedeutet.
Es könnte also noch
lustig
werden.
Im
Sinne von mehr Transparenz stelle ich im Folgenden anhand einiger
Zitate aus Urteilen des Bundesverfassungsgerichts dar, was eine
Versammlung im Sinne des Art. 8 GG ist:
1.
Brokdorf-Urteil vom 14.05.1985 zum Versammlungsrecht allgemein,
2.
Frankfurt-Air Base-Urteil vom 07.03.2011 zu Sitzblockaden.
„Eine
Versammlung
ist eine
örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen zur gemeinschaftlichen,
auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten
Erörterung oder Kundgebung … Der Schutz ... umfasst vielfältige
Formen gemeinsamen Verhaltens bis hin zu nicht verbalen
Ausdrucksformen, darunter
auch Sitzblockaden (Frankfurt
– Air Base
– Urteil
Abs.
32).“
„Eine
Versammlung verliert den Schutz des Art. 8 GG grundsätzlich bei
kollektiver Unfriedlichkeit. Unfriedlich ist danach eine Versammlung,
wenn Handlungen von einiger Gefährlichkeit wie etwa aggressive
Ausschreitungen gegen Personen oder Sachen oder sonstige
Gewalttätigkeiten stattfinden, nicht aber schon, wenn es zu
Behinderungen Dritter kommt, seien
diese auch gewollt und nicht nur in Kauf genommen ...
Der Schutz des Art. 8 GG besteht zudem unabhängig davon, ob
eine Versammlung anmeldepflichtig und dementsprechend angemeldet ist
... Er endet mit der rechtmäßigen Auflösung der Versammlung...
(Frankfurt-Airbase-Urteil
Abs. 33).“
„...
Ebenso und erst recht dürfen gegenüber den Veranstaltern und
Teilnehmern von Großdemonstrationen keine Anforderungen gestellt
werden, welche den Charakter von Demonstrationen als prinzipiell
staatsfreie unreglementierte Beiträge zur politischen
Meinungsbildung und Willensbildung sowie die Selbstbestimmung der
Veranstalter über Art. und Inhalt der Demonstrationen aushöhlen
würden. Dies geschieht nicht, soweit von Veranstaltern und
Teilnehmern lediglich verlangt wird, unfriedliches Verhalten zu
unterlassen und die Beeinträchtigung von Drittinteressen zu
minimalisieren …
(Brokdorf-Urteil Abs.
85).“
„Als
Abwehrrecht, das auch und vor allem andersdenkenden Minderheiten
zugute kommt, gewährleistet Art. 8 GG den Grundrechtsträgern das
Selbstbestimmungsrecht über Ort, Zeitpunkt, Art.
und Inhalt der Veranstaltung und
untersagt
zugleich staatlichen
Zwang,
an einer öffentlichen Versammlung teilzunehmen oder ihr
fernzubleiben. Schon in
diesem Sinne gebührt dem Grundrecht in einem freiheitlichen
Staatswesen ein besonderer Rang ...
In ihrer Geltung für politische Veranstaltungen verkörpert die
Freiheitsgarantie aber zugleich eine Grundentscheidung,
die in ihrer Bedeutung über den Schutz gegen staatliche Eingriffe in
die ungehinderte Persönlichkeitsentfaltung hinausreicht
(Brokdorf-Urteil
Abs.62).“
„Steht
kollektive Unfriedlichkeit nicht zu befürchten, ist also nicht damit
zu rechnen, daß eine Demonstration im Ganzen einen gewalttätigen
oder aufrührerischen Verlauf nimmt (vgl. § 13 I Nr. 2 VersG) oder
daß der Veranstalter oder sein Anhang einen solchen Verlauf
anstreben (vgl. § 5 Nr. 3 VersG) oder zumindest billigen, dann muß
für die friedlichen Teilnehmer der von der Verfassung jedem
Staatsbürger garantierte Schutz der Versammlungsfreiheit auch
dann erhalten bleiben, wenn einzelne andere Demonstranten oder eine
Minderheit Ausschreitungen begehen ... (Brokdorf-Urteil
Abs. 93).“
„Soweit
das Landgericht darauf abstellt, dass die Demonstranten sich nicht
auf die Versammlungsfreiheit berufen könnten, weil ihre Aktion der
Erregung von Aufmerksamkeit gedient habe, hat es den Schutzbereich
der Versammlungsfreiheit verkannt ... Versteht man die Ausführungen
des Landgerichts dahin, dass es zum Ausdruck habe bringen wollen, die
Demonstranten hätten mithilfe der Aktion zu einer
selbsthilfeähnlichen
Durchsetzung eigener konkreter Forderungen angesetzt, erweisen sich
diese Erwägungen ebenfalls verfassungsrechtlich als nicht tragfähig.
...
(Frankfurt
Air
Base-Urteil Abs. 35).“
„Bei
dieser am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierten
Zweck-Mittel-Relation sind insbesondere die Art und das Maß der
Auswirkungen auf betroffene Dritte und deren Grundrechte zu
berücksichtigen. Wichtige Abwägungselemente sind hierbei die Dauer
und die Intensität
der Aktion, deren vorherige Bekanntgabe,
Ausweichmöglichkeiten
über andere Zufahrten, die Dringlichkeit
des blockierten Transports,
aber auch der Sachbezug
zwischen den in ihrer Fortbewegungsfreiheit beeinträchtigten
Personen und dem Protestgegenstand.
… Stehen die äußere Gestaltung und die durch sie ausgelösten
Behinderungen in einem Zusammenhang mit dem Versammlungsthema oder
betrifft das Anliegen auch die von der Demonstration nachteilig
Betroffenen, kann die Beeinträchtigung ihrer Freiheitsrechte unter
Berücksichtigung der jeweiligen Umstände möglicherweise eher
sozial erträglich und dann in größerem Maße hinzunehmen sein, als
wenn dies nicht der Fall ist …
(Frankfurt
Air Base – Urteil Abs. 39)
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