Mittwoch, 4. November 2015

Was ist eine Versammlung nach Art. 8 GG?


Was ist eine Versammlung nach Art. 8 GG?

v. i. S. d. P. reinhart.vowinckel@web.de http:// vowinckel.blogspot.de 02.11.2015

Am vergangenen Mittwoch fand die erste von vier geplanten Sitzungen des Stuttgarter Verwaltungsgerichts zum blutigen Polizeieinsatz gegen die Großdemonstration zu S21 im Schlossgarten vor fünf Jahren statt. Weitere Verhandlungstage sollen der 11.11., der 18.11. sowie der 25.11.2015 (jeweils ab 10.00 Uhr) sein. Das VG hat dazu am 29.09., also pünktlich zum 5. Jahrestag der Ereignisse, eine Pressemitteilung herausgegeben, in der u. a. die Klagebegründung von Opfern des Polizeieinsatzes kurz umrissen wird:

Die Kläger, die fast alle bei dem Polizeieinsatz verletzt wurden, möchten im Wesentlichen vom Gericht festgestellt haben, dass die Aufforderung der Polizei, bestimmte Bereiche des Schlossgartens zu verlassen sowie die Androhung und Anwendung des unmittelbaren Zwangs durch Einsatz von Wasserwerfern, Schlagstock und Pfefferspray rechtswidrig waren. Zur Begründung tragen sie im Wesentlichen vor, sie seien Teilnehmer einer friedlichen Versammlung gewesen. Der durch die Polizeibeamten ausgesprochene Platzverweis sei rechtswidrig gewesen, da die Auflösung der Versammlung nicht wirksam angeordnet worden sei. Schon aus diesem Grund seien die Androhung und Anwendung der Zwangsmittel unzulässig gewesen. Im Übrigen sei der Einsatz von Wasserwerfern, Schlagstöcken und Pfefferspray unverhältnismäßig gewesen. Insbesondere sei das gezielte Ausrichten des Wasserstrahls der Wasserwerfer auf einzelne Personen angesichts der fehlenden Gefahrenlage völlig überzogen gewesen.“

Zur Erwiderung des Landes heißt es lediglich:

Dem ist das beklagte Land in allen Punkten entgegengetreten.“

Position und Argumentation der klagenden Opfer des Polizeieinsatzes sind seit Langem bis in die Details öffentlich und bekannt. Die Position des Landes bzw. seine Begründungen sind es jedoch nicht. Warum hat das Gericht im Dienste der Transparenz und Demokratie nicht auch sie zusammengefasst und veröffentlicht, um jedem Versuch einer Überforderung und Überrumpelung der Öffentlichkeit nach Möglichkeit entgegen zu treten? Ohne Transparenz keine Demokratie. „Das beklagte Land“, das sind gegenwärtig SPD und GRÜNE. Ob sich GRÜNE UND SOZIALDEMOKARTEN in dem anstehenden Verfahren tatsächlich hinter die CDU der Ministerpräsidenten Oettinger und Mappus stellen, könnte spannend werden.
Der Gewinn an Transparenz dürfte wichtiger sein als die (ohnehin nur vorläufige) Entscheidung des Richters. Laut Stuttgarter Zeitung hat er am ersten Verhandlungstag gesagt: „Wenn die Zusammenkunft im Schlossgarten eine Versammlung war, dann war der Einsatz rechtswidrig.“ Eine mysteriöse Bemerkung! Ist das denn nicht klar? Sie dürfte bedeuten, „das Land“ behauptet, bei der Kundgebung habe es sich nicht um eine friedliche Versammlung mit Demonstrationscharakter gehandelt, sondern „die Demonstranten hätten mithilfe der Aktion zu einer selbsthilfeähnlichen Durchsetzung eigener konkreter Forderungen angesetzt“(vergl. unten Frankfurt Air Base-Urteil Abs. 35), was so viel wie Faustrecht oder Selbstjustiz bedeutet. Es könnte also noch lustig werden.
Im Sinne von mehr Transparenz stelle ich im Folgenden anhand einiger Zitate aus Urteilen des Bundesverfassungsgerichts dar, was eine Versammlung im Sinne des Art. 8 GG ist:
1. Brokdorf-Urteil vom 14.05.1985 zum Versammlungsrecht allgemein,
2. Frankfurt-Air Base-Urteil vom 07.03.2011 zu Sitzblockaden.

Eine Versammlung ist eine örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen zur gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung … Der Schutz ... umfasst vielfältige Formen gemeinsamen Verhaltens bis hin zu nicht verbalen Ausdrucksformen, darunter auch Sitzblockaden (Frankfurt – Air Base – Urteil Abs. 32).“
Eine Versammlung verliert den Schutz des Art. 8 GG grundsätzlich bei kollektiver Unfriedlichkeit. Unfriedlich ist danach eine Versammlung, wenn Handlungen von einiger Gefährlichkeit wie etwa aggressive Ausschreitungen gegen Personen oder Sachen oder sonstige Gewalttätigkeiten stattfinden, nicht aber schon, wenn es zu Behinderungen Dritter kommt, seien diese auch gewollt und nicht nur in Kauf genommen ... Der Schutz des Art. 8 GG besteht zudem unabhängig davon, ob eine Versammlung anmeldepflichtig und dementsprechend angemeldet ist ... Er endet mit der rechtmäßigen Auflösung der Versammlung... (Frankfurt-Airbase-Urteil Abs. 33).“
... Ebenso und erst recht dürfen gegenüber den Veranstaltern und Teilnehmern von Großdemonstrationen keine Anforderungen gestellt werden, welche den Charakter von Demonstrationen als prinzipiell staatsfreie unreglementierte Beiträge zur politischen Meinungsbildung und Willensbildung sowie die Selbstbestimmung der Veranstalter über Art. und Inhalt der Demonstrationen aushöhlen würden. Dies geschieht nicht, soweit von Veranstaltern und Teilnehmern lediglich verlangt wird, unfriedliches Verhalten zu unterlassen und die Beeinträchtigung von Drittinteressen zu minimalisieren (Brokdorf-Urteil Abs. 85).

Als Abwehrrecht, das auch und vor allem andersdenkenden Minderheiten zugute kommt, gewährleistet Art. 8 GG den Grundrechtsträgern das Selbstbestimmungsrecht über Ort, Zeitpunkt, Art. und Inhalt der Veranstaltung und untersagt zugleich staatlichen Zwang, an einer öffentlichen Versammlung teilzunehmen oder ihr fernzubleiben. Schon in diesem Sinne gebührt dem Grundrecht in einem freiheitlichen Staatswesen ein besonderer Rang ... In ihrer Geltung für politische Veranstaltungen verkörpert die Freiheitsgarantie aber zugleich eine Grundentscheidung, die in ihrer Bedeutung über den Schutz gegen staatliche Eingriffe in die ungehinderte Persönlichkeitsentfaltung hinausreicht (Brokdorf-Urteil Abs.62).“

Steht kollektive Unfriedlichkeit nicht zu befürchten, ist also nicht damit zu rechnen, daß eine Demonstration im Ganzen einen gewalttätigen oder aufrührerischen Verlauf nimmt (vgl. § 13 I Nr. 2 VersG) oder daß der Veranstalter oder sein Anhang einen solchen Verlauf anstreben (vgl. § 5 Nr. 3 VersG) oder zumindest billigen, dann muß für die friedlichen Teilnehmer der von der Verfassung jedem Staatsbürger garantierte Schutz der Versammlungsfreiheit auch dann erhalten bleiben, wenn einzelne andere Demonstranten oder eine Minderheit Ausschreitungen begehen ... (Brokdorf-Urteil Abs. 93).“

Soweit das Landgericht darauf abstellt, dass die Demonstranten sich nicht auf die Versammlungsfreiheit berufen könnten, weil ihre Aktion der Erregung von Aufmerksamkeit gedient habe, hat es den Schutzbereich der Versammlungsfreiheit verkannt ... Versteht man die Ausführungen des Landgerichts dahin, dass es zum Ausdruck habe bringen wollen, die Demonstranten hätten mithilfe der Aktion zu einer selbsthilfeähnlichen Durchsetzung eigener konkreter Forderungen angesetzt, erweisen sich diese Erwägungen ebenfalls verfassungsrechtlich als nicht tragfähig. ... (Frankfurt Air Base-Urteil Abs. 35).“

Bei dieser am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierten Zweck-Mittel-Relation sind insbesondere die Art und das Maß der Auswirkungen auf betroffene Dritte und deren Grundrechte zu berücksichtigen. Wichtige Abwägungselemente sind hierbei die Dauer und die Intensität der Aktion, deren vorherige Bekanntgabe, Ausweichmöglichkeiten über andere Zufahrten, die Dringlichkeit des blockierten Transports, aber auch der Sachbezug zwischen den in ihrer Fortbewegungsfreiheit beeinträchtigten Personen und dem Protestgegenstand. … Stehen die äußere Gestaltung und die durch sie ausgelösten Behinderungen in einem Zusammenhang mit dem Versammlungsthema oder betrifft das Anliegen auch die von der Demonstration nachteilig Betroffenen, kann die Beeinträchtigung ihrer Freiheitsrechte unter Berücksichtigung der jeweiligen Umstände möglicherweise eher sozial erträglich und dann in größerem Maße hinzunehmen sein, als wenn dies nicht der Fall ist … (Frankfurt Air Base – Urteil Abs. 39)

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