Sonntag, 9. Februar 2014

Das Demonstrationsrecht ist ein Supergrundrecht

Das Demonstrationsrecht ist ein Supergrundrecht
Statement  IV zum Versammlungsrecht                                             07.02.2014
Reinhart.Vowinckel@web.de              http://vowinckel.blogspot.de

Vor einigen Monaten verkündet der damalig Bundesinnenminister Friedrich, es gebe ein „Supergrundrecht auf Sicherheit“. Prompt erfuhr er von kompetenter Seite, unter anderen dem ehemaligen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts Papier,  energischen Widerspruch. Es gibt nicht einmal ein einfaches Grundrecht auf Sicherheit, ganz einfach weil kein Staat ein solches Recht gewährleisten könnte.
Schon in seinem Urteil vom 24.10.2001 zu Sitzblockaden hat das Bundesverfassungsgericht  den Strafgerichten vorgehalten:

„Der besondere Schutz der Versammlungsfreiheit beruht auf ihrer Bedeutung für den Prozess öffentlicher Meinungsbildung in der freiheitlichen demokratischen Ordnung des Grundgesetzes. Der Schutz reicht daher über den der allgemeinen Entfaltungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG hinaus. …Dieses auf kollektive Meinungsäußerung gerichtete Grundrecht kommt Mehrheiten wie Minderheiten zugute und verschafft auch denen Möglichkeiten zur Äußerung in einer größeren Öffentlichkeit, denen der direkte Zugang zu den Medien versperrt ist (BVerfG am 24.10.2001, Abs. 38)“.

Mit dieser die Freiheitsrechte betonenden Äußerung stemmte es sich gegen die Verabsolutierung des Sicherheitsbedürfnisses des überwiegenden Teils der deutschen Strafjustiz unter Führung des Bundesgerichtshofs in Karlsruhe. Zweimal hat der BGH seine Linie der Kriminalisierung von Demonstrationshandlungen in der deutschen Justiz  auch gegenüber Gerichten, die freiheitlich entschieden hatten, durchgesetzt und das bis heute leider unter Mithilfe mangelnder Abhilfe des Bundesverfassungsgerichts.

Staatsgewalttätige Paranoia   -   der Bundesgerichtshof 1969

Das erste Mal geschah das am 08.08.1969 mit dem sogenannten Läpple-Urteil. Ich habe darüber bereits in Statement III berichtet. In ihm hieß es:
Die Studenten, die sich auf den Gleiskörper der Straßenbahn setzten oder stellten, um damit den Straßenbahnverkehr zu blockieren, nötigten die Führer der Straßenbahn mit Gewalt, ihre Fahrzeuge anzuhalten.“ (a. a. O. Abs. 12)
Nun bedarf es wohl schon eines erheblichen böswilligen Einfallsreichtums, im bloßen Hinstehen oder Hinsetzen Einsatz von Gewalt zu erkennen. Aber Demos sollten nach Kräften kriminalisiert werde, und die Herrschaften beim BGH ließen sich etwas einfallen. Die Kernaussage der spitzfindigen juristischen Begründung des Urteils lautete, der Bewertung als Gewalt stehe nicht entgegen,
„daß die Studenten die Straßenbahn nicht durch den Einsatz körperlicher Kräfte  aufhielten, sondern nur mit geringem Kraftaufwand einen psychisch determinierten Prozess in Lauf setzten. … Stellt sich ein Mensch der Bahn auf den Schienen entgegen, so liegt darin die Ausübung eines Zwanges, der für den Fahrer sogar unwiderstehlich ist, denn er muss halten, weil er sonst einen Totschlag beginge. (Abs. 12)“
Unübersehbar lag hier nicht einmal ein minimaler Kraftaufwand vor, geschweige denn ein Kraftaufwand¸ der dem in § 240 StGB als strafbar vorausgesetzten entsprochen hätte. Trotzdem brauchten sowohl der BGH als auch das BVerfG weitere 26 Jahre, bis eine neue Zusammensetzung des Richterkollegiums des Verfassungsgerichts zu der mehrheitlichen Erkenntnis führte, dass der § 240 StGB vom BGH verballhornt worden war und damit dem Bestimmtheitsgebot widersprach.
Aber das war eine rein formalistische Kritik, die sich nicht ausreichend auch mit der hinter dieser Rechtsbeugung stehenden politischen bzw. ideologischen Überzeugung auseinandersetzte. Nicht nur in formaler Hinsicht widerspricht das Läpple-Urteil den Urteilen des heutigen Verfassungsgerichts. Hinter der Entschlossenheit des BGH, den Nötigungsparagraphen zurechtzutrimmen und zu beugen, bis er für die eigenen politischen Ziele brauchbar war, stand ihre politische Überzeugung, dass das Grundrecht auf friedliche Demonstrationen ein im Grunde ein gefährliches Übel ist. Der Tenor dieses Urteil war die Furcht vor Förderung von Terrorismus der Demonstranten:  

Personenverbänden so wenig wie einzelnen kann die Mitsprache in öffentlichen Angelegenheiten mit anderen Mitteln als denen der Werbung, Überzeugung und Überredung gestattet sein. Entscheidungen in solchen Angelegenheiten müssen frei von gewaltsamer Einwirkung in den Händen der Organe liegen, die durch Verfassung und Gesetz dazu legitimiert und durch Mehrheitsentscheidungen  des Volkes auf der Grundlage von geordneten und gegen Missbrauch und Verfälschung abgesicherten Wahlen und Abstimmungen berufen sind. Die Anerkennung eines Demonstrationsrechtes in dem von der Kammer angenommenen Ausmaß liefe auf die Legalisierung eines von militanten Minderheiten ausgeübten Terrors hinaus, welcher mit der auf dem Mehrheitsprinzip fußenden demokratischen Verfassung , letztlich aber auch als Verstoß gegen das Prinzip der Gleichheit aller vor dem Gesetz mit den Grundsätzen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung schlechthin unverträglich ist.“ (Läpple-Urteil  BGH vom 08.08.69, Abs. 16)

Das heißt im Grunde genommen, Elemente direkte Demokratie laufen auf Terror hinaus. Auch absolut friedliche, gewaltlose Demonstrationen, mit denen nur auf gesellschaftliche oder staatliche Missstände aufmerksam gemacht werden sollte, sollten deswegen zur Abschreckung kriminalisiert werden. Nur darum ging und geht es dem BGH.
Besonders aufschlussreich hinsichtlich der vergangenheitsgebundenen Denkweise des BGH ist eine Nebenbemerkung des Urteils. Ziel der Bahnblockade der Studenten war eine Anhörung der Studentenvertretung durch die Kölner Stadtverwaltung zum Thema Fahrpreiserhöhungen für Studenten, dessen Berechtigung die unteren Gerichte zunächst als strafbefreiend angesehen hatten. Der BGH jedoch weist zunächst informierend darauf hin:

„Eine Rechtspflicht zum Gehör besteht von Verfassungs wegen nur im gerichtlichen Verfahren … und im übrigen nur, soweit sie gesetzlich vorgeschrieben ist. Ein verfassungsmäßiges Recht des Bürgers oder irgendeiner Organisation, von sämtlichen öffentlichen Stellen und Behörden vor jeglicher Maßnahme gehört zu werden… existiert nicht.“

Nun waren derartig allgemeine Forderungen von den Studenten auch gar nicht erhoben worden, aber dem Senat ging es ja um die Vorbeugung gegen Terror, also die allgemeine öffentliche Sicherheit gegenüber einem Phantom, und so fuhr er fort:

„Ein Recht auf Anhörung  „kann auch gar nicht wünschbar sein…Eine Anhörung solcher Art … wird mitunter aber auch im öffentlichen Interesse um des Ansehens der von der Mehrheitsentscheidung des Volkes getragenen Organe willen zu meiden sein...(Läpple-Urteil, Abs. 14)“

Dem BGH ist anscheinend auch bis heute noch nicht klar geworden, dass das Demonstrationsrecht ja gerade ein Grundrecht auf Anhörung darstellt, wenn auch nicht formell, sondern nur informell, je nach Bedarf der Bürger und Sensibilität der „Staatsgewaltigen“. Und dass es auch eine formelle Pflicht auf Anhörung bei Bedarf geben sollte, dass ist wohl inzwischen auch sowohl sämtlichen Parlamentsparteien wie auch der Wirtschaft gerade durch den Protest gegen S21 bewusst geworden.
Der BGH dürfte sich wohl auch nie Rechenschaft darüber abgelegt haben, welche Beleidigung und Herabwürdigung von sich der Gewaltlosigkeit verpflichtet fühlenden und für das Gemeinwohl engagierten Demonstranten mit Zivilcourage in ihrer Kriminalisierung vor sich geht. Ob sie dabei je an den ersten Artikel des Grundgesetzes gedacht haben:

Art. 1 GG: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“

Dieses Urteil des BGH vom 08.08.1969 behielt bis zum 09. Januar 1995, also 26 Jahre, lang Gültigkeit. Vier Grundrechtsbeschwerden wurden mit Mehrheit oder Stimmengleicheit (4 zu 4) zurückgewiesen. Bis dann durch Neubesetzung eines Senats eine Mehrheit den „vergeistigten“ Gewaltbegriff als verfassungswidrig ablehnte.

Das war natürlich eine schallende Ohrfeige für den Bundesgerichtshof. Aber die brannte und schallte allenfalls ein halbes Jahr lang. Mit ihrer nächsten Aburteilung von Blockadeaktionen am  20. Juli 1995 entwickelten die Richter ihre „Zweite-Reihe-Rechtsprechung“, mit der auch gewaltfreie Blockaden weiterhin verboten wurden,  und diese  herrscht inzwischen auch schon wieder seit fast 20 Jahren,  mit Duldung des Bundesverfassungsgerichts.
Wie sie das Problem fehlender körperlicher Kraftentwicklung im Läpple-Urteil dadurch gelöst hatten, dass sie Blockierern quasi telekinetische, hypnotische Gewalt zusprachen, griffen sie nun zu einem neuen Zaubertrick, der weniger an Hypnose erinnert als an Löffelbiegen. Sie rematerialisierten ihren bis dahin fälschlicherweise „entmaterialisierten“ Gewaltbegriff. Eine leblose Metallkonstruktion, genannt Auto, die einen anderen Autofahrer weder verletzen noch gar töten noch irgendwie mit einem anderen „erheblichen Übel“ bedrohen (§ 240 StGB) kann und möchte und auch selbst nichts dergleichen erfahren kann,  ersetzte nun den fehlenden Gewalttäter. Aber es war nun wenigstens wieder Materie als Joker im Spiel, als Straftatmittler, wie es im Urteil hieß. .
Hätte der BGH schon 1969 mit diesem Gewaltbegriff operieren wollen, hätte er vermutlich alt ausgesehen. Straßenbahnen folgen einander nicht so schnell. Da hätte die eine die andere nicht so schnell blockiert und damit als Tatmittler an Stelle des Demonstranten gewalttätig gehandelt.

Demonstrationen sind staatstragend (Bundesverfassungsgericht)

Um das erste BGH-Urteil zu Sitzblockaden von 1969 aus gebührendem historischen Abstand in seiner Rückwärtsgewandtheit verstehen zu können, hilft sicherlich die Kenntnis der wichtigsten Positionen des heutigen Bundesverfassungsgerichts. In seinem Urteil vom 22.02.2011 zur Demonstrationsfreiheit schreibt es:
:
Als Freiheit zur kollektiven Meinungskundgabe ist die Versammlungsfreiheit für eine freiheitlich demokratische Staatsordnung konstituierend (Abs. 63)“.

In seinem Urteil vom März 2011 schließlich hält es sogar noch einmal ausdrücklich fest, dass nach Artikel 8 GG sogar Sitzblockaden geschützt sind:

 „Der Schutz ist nicht auf Veranstaltungen beschränkt, auf denen argumentiert und   gestritten wird, sondern umfasst vielfältige Formen gemeinsamen Verhaltens bis hin zu nicht verbalen Ausdrucksformen, darunter auch Sitzblockaden …“ (BVerfG am 07.03.2011, Abs. 32)

Diese Aussage hat allerdings den Haken, dass das BVerfG die Zweite-Reihe-Rechtsprechung trotzdem anerkennt.
Weiter betont das BVerfG:
Mit der Ausübung des Versammlungsrechts sind häufig unvermeidbar gewisse nötigende Wirkungen in Gestalt von Behinderungen Dritter verbunden … Derartige Behinderungen Dritter und Zwangswirkungen sind durch Art. 8 GG gerechtfertigt, soweit sie als sozial-adäquate Nebenfolgen mit rechtmäßigen Demonstrationen verbunden sind.“ (BVerfG 24.10.2001, Abs. 51)
Wie die Zitate zeigen, gilt dem Verfassungsgericht das Demonstrationsrecht, das über das Recht auf persönlich und unverbindliche freie Meinungsäußerung weit hinausgeht, als zentrale Säule der freiheitlich demokratischen Staatsordnung. Demonstrationen werden von ihm als von den Staatsgewalten zu respektierende Aktivitäten der pluralen politischen Willensbildung des Volkes außerhalb der Institutionen der repräsentativen Parteiendemokratie gewürdigt. Demonstrationen sind also, wenn sie friedlich sind und sich nicht gegen die Existenz der gesamten staatlichen Ordnung selbst richten, sogar staatstragend. Von dieser Erkenntnis ist die deutsche Strafjustiz jedoch nach meiner Vermutung  mehrheitlich noch weit entfernt.

Ob wohl einem der an solchen Urteilen beteiligten Richter einmal – wenigstens im stillen Kämmerlein – der Gedanke gekommen ist, der Nötigungsparagraph könnte mit mindestens dem gleichen Recht auch auf sie selbst angewendet werden, auch wenn ihr Handeln nicht strafbar war? Schließlich sind doch auch Richter immer noch nur Menschen.  

Statt die Bürger zu engagiertem sozialem Verhalten zu ermutigen, betreibt der BGH und die hinter ihm stehende übrige Justiz, besonders in den Justizministerien, Abschreckung durch Kriminalisierung. Wenn es ein „Supergrundrecht“ gibt, dann ist das das Demonstrationsrecht, die freiheitliche Zuflucht der Staatsbürger, und nicht das Recht auf Sicherheit.
Dazu eine kleine historische Rückblende
Der Bundesgerichtshof wurde unmittelbarer Nachfolger des Reichsgerichtshofs, also des deutschen Spitzengerichts, das schon seit der Reichsgründung im Jahr 1871 das Kaiserreich, die Weimarer Republik von 1919 bis 1933, d. h. auch  die „Präsidialdiktatur“ Hindenburgs von 1925 bis 1933 sowie das „Dritte Reich“ von 1933 bis 1945 überlebt hatte.
Auch die Richter, die im Jahr 1969 am Bundesgerichtshof urteilten, hatten von Ausnahmen abgesehen bereits unter Hitler gedient oder zumindest  im NS-Reich ihre Ausbildung und damit auch ihre juristische Sozialisierung erfahren, nur dass sie inzwischen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung dienten und nicht mehr dem „Führer“. Und wer von uns könnte sicher sein, dass er untere den damaligen Umständen nicht die gleichen Fehler gemacht hätte.
Wer das Sicherheitsbedürfnis verabsolutiert und alles bewahren und machen möchte wie gewohnt, der übersieht schnell historische Entwicklungen und schafft durch seine Starrheit Sicherheitsrisiken, vor denen er die Bürger bewahren wollte. Massenhafte Kriminalisierung engagierter Staatsbürger schafft Staatsverdruss. So wird Evolution verhindert und Revolution provoziert.

Warum ist Sitzenbleiben kriminell?

Warum ist Sitzenbleiben kriminell?                  03.02.2014
Statement III zum Versammlungsrecht                  reinhart.vowinckel@web.de  http://vowinckel.blogspot,de   

Mein Thema in diesem Betrag zum Demonstrationsrecht sind die Sitzblockaden. Sie werden in Deutschland prinzipiell als strafbare Nötigungen behandelt. Ich möchte, um das äußerst komplexe Thema halbwegs nachvollziehbar zu strukturieren, die Aufmerksamkeit zunächst auf drei Gesetze lenken, um die sich in der Rechtsprechung dazu alles dreht. Das sind die Artikel 8 und 103 des Grundgesetzes (GG) sowie der § 240 des Strafgesetzbuches (StGB). Ihr Wortlaut plus einer kurzen Erläuterung:

1. Artikel 8 GG: Demonstrationsfreiheit

(1) Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln.
(2) Für Versammlungen unter freiem Himmel kann dieses Recht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden.

Erläuterung: Das Demonstrationsrecht ist nicht nur ein individuelles, sondern ein kollektives Grundrecht, das Bürger vor dem Staat schützen soll. Es gilt nur für friedliche Versammlungen. Die Messlatte für „Unfriedlichkeit“ ist dabei sehr hoch gelegt (Waffenbesitz). Das bestätigt ein gerade einmal drei Jahre altes  Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 08. März 2011:
„Eine Versammlung verliert den Schutz des Art.8 GG grundsätzlich bei kollektiver Unfriedlichkeit. Unfriedlich ist danach eine Versammlung, wenn Handlungen von einiger Gefährlichkeit wie etwa aggressive Ausschreitungen gegen Personen oder Sachen oder sonstige Gewalttätigkeiten stattfinden, nicht aber schon, wenn es zu Behinderungen Dritter kommt, seien diese auch gewollt und nicht nur in Kauf genommen.“ (BVerfG 08-03-2011, Abs.33)
2. Artikel 103 GG: Bestimmtheitsgebot

(1)      Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.

Erläuterung: Das Bestimmtheitsgebot in Art 103 GG bezweckt zwei Wirkungen. Zum einen sollen Straftatbestände allein vom Gesetzgeber, also den Parlamenten bestimmt werden und nicht erst im Nachhinein von den Gerichten. Zum anderen sollen Straftatbestände für die Bürger klar erkennbar sein.


3. Paragraph 240 des Strafgesetzbuches: Nötigung

(1) Wer einen Menschen rechtswidrig mit Gewalt oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung nötigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
(2) Rechtswidrig ist die Tat, wenn die Anwendung der Gewalt oder die Androhung des Übels zu dem angestrebten Zweck als verwerflich anzusehen ist.
Erläuterung: Hier kommt es auf den Begriff rechtswidrig an, denn nicht jede Nötigung, ob mit Gewalt oder als Drohung, ist auch gleich rechtswidrig. Rechtswidrig ist sie erst, wenn sie „verwerflich“ ist. In der Rechtsprechung werden als Synonyme für den Begriff „verwerflich“ auch folgende Begriffe benutzt: sozialwidrig, sozial unerträglich, sozial schädlich.

Zweite-Reihe-Rechtsprechung ein Rätsel

Warum ist Verkehrsbehinderung im Sitzen verwerflich, im Stehen oder Gehen jedoch nicht?
Warum sind Demonstrationen hier „sozialadäquat“, dort aber „sozialschädlich“?
Sitzblockaden werden in Deutschland generell als strafbare Nötigung behandelt, also kriminalisiert. Die pseudorechtliche Begründung geht folgendermaßen: Wer sich auf eine Straße setzt, um Kraftfahrzeuge an der Weiterfahrt, z. B. in eine Baustelle  zu hindern, wendet durch seine einfache körperliche Präsenz noch keine strafbare körperliche Gewalt an. In dem Moment, da vor ihm ein Fahrzeug anhält und nachfolgenden Fahrzeugen den Weg versperrt, übt der Sitzende jedoch angeblich mit Hilfe des gestoppten Fahrzeugs körperliche Gewalt aus. Eine absurde Geschichte. Kann der juristisch unverdorbene Bürger das noch verstehen? Kann er es noch mit dem Nötigungsparagraphen des Strafrechts in Übereinstimmung bringen? Wird da nicht das Bestimmtheitsgebot des Artikel 103 des Grundgesetzes in die Tonne getreten?
Das Bundesverfassungsgericht  zu sozialkompatiblen Nötigungen
Bei unseren Montagsdemos können sich in einer eventuell entstehenden Fahrzeugschlange immer auch z. B. Baufahrzeuge befinden, die an der Weiterfahrt auf eine Baustelle gehindert werden. Auch hier findet nicht strafbare Nötigung statt. Das hat auch das BVerfG bereits in seinem Urteil vom 24.10.2001 eingeräumt:
„Mit der Ausübung des Versammlungsrechts sind häufig unvermeidbar gewisse nötigende Wirkungen in Gestalt von Behinderungen Dritter verbunden … Derartige Behinderungen Dritter und Zwangswirkungen sind durch Art. 8 GG gerechtfertigt, soweit sie als sozial-adäquate Nebenfolgen mit rechtmäßigen Demonstrationen verbunden sind.“ (BVerfG 24.10.2001, Abs. 51)
Eine historische Verirrung -  Des Rätsels Lösung demnächst in  Statement IV

Unsere Montagsdemos gehören vor allem vor den Bahnhof

      Unsere Montagsdemos gehören vor allem vor den Bahnhof

Statement II zum Thema Demonstrationsrecht  reinhart.vowinckel@web.de    08.01.2014

Zwei Falschmeldungen der letzten Tage, unseren Protest gegen S21 betreffend.
1. Die Stuttgarter Zeitung an Silvester:
Den S21-Gegnern sind die Montagsdemos auf dem Arnulf-Klett-Platz und auf der Schillerstraße vor dem Hauptbahnhof untersagt worden, weil sie regelmäßig erhebliche Verkehrsbehinderungen zur Folge hatten. Die Stadt hat die Kundgebungen daher nach dem Ende des Weihnachtsmarktes auf den Marktplatz verlegt.“
Das wäre jedenfalls rechtswidrig. Die Stadt darf verfassungsrechtlich prinzipiell keine Demo „verlegen“. Das können nur die Demonstranten:
Art. 8 Abs. 1 GG gewährleistet auch das Recht, selbst zu bestimmen, wann, wo und unter welchen Modalitäten eine Versammlung stattfinden soll.“ „Der sich Äußernde hat nicht nur das Recht, überhaupt seine Meinung kundzutun, sondern er darf hierfür auch die Umstände wählen, von denen er sich die größte Verbreitung oder die stärkste Wirkung seiner Meinungskundgabe verspricht (Abs. 97).“ (Bundesverfassungsgericht am 22.02.2011)
Die Stadt darf allerdings aus schwerwiegenden Sicherheitsbedenken heraus bestimmte Orte verweigern. Das gilt allerdings in der Regel auch nicht für alle Zeiten. Einen bestimmten Kundgebungsort vorschreiben kann sie hingegen nicht.
2. OB Kuhn in einem Interview mit der Badischen Zeitung vom 02.01.2014:
„Zeigen Sie mir, welche andere Stadt einen so prominenten Platz gemeint der Marktplatz) anbietet für eine Demonstration, nicht irgendwo, sondern im Herzen der Stadt.“
Mit einem Eigenlob versucht OB Kuhn sich der an ihm aufkommenden Kritik zu entziehen, aber auch das Eigenlob stinkt. Verfassungsrechtlich muss, ich wiederhole muss eine Stadt Kundgebungen gerade in ihrem Herzen zulassen. Auch dazu das Bundesverfassungsgericht:
„Vor allem innerörtliche Straßen und Plätze werden heute als Stätten des Informations- und Meinungsaustausches sowie der Pflege menschlicher Kontakte angesehen. (Abs.67).“
Demonstrationen sind eben für jede Stadt eine „Herzensangelegenheit“, ob sie will oder nicht.

Beide Meldungen sind Beispiele für tagtägliche Desinformation der Öffentlichkeit durch  Verwaltung, Medien  und Politiker. Das kann aber nur dem auffallen, der seine Rechte einigermaßen kennt. Wer sie nicht kennt, der kann sie auch nicht verteidigen, wenn sie angegriffen werden. Und das geschieht gerade im Zusammenhang mit S21 massiv.
Die Stadt kann eben nicht einen von uns angemeldeten Demonstrationsort einfach irgendwohin „verlegen“.
Sie kann lediglich einen Ort verweigern, und das nur aus Sicherheitsgründen und Gründen der Funktionstüchtigkeit öffentlicher Einrichtungen - und eben auch nicht aus Gründen der Unbequemlichkeit oder Belästigung. Auch dazu das BvG:
Eine Untersagung einer Versammlung kommt nur in Betracht, wenn eine unmittelbare, aus erkennbaren Umständen herleitbare Gefahr  für mit der Versammlungsfreiheit gleichwertige elementare Rechtsgüter vorliegt. Für das Vorliegen der ‚unmittelbaren’ Gefährdung bedarf es einer konkreten Gefahrenprognose. Bloße Belästigung Dritter, die sich aus der Gruppenbezogenheit der Grundrechtsausübung ergeben und sich ohne Nachteile für den Versammlungszweck nicht vermeiden lassen, reichen hierfür nicht. Sie müssen in der Regel hingenommen werden. Sind unmittelbare Gefährdungen von Rechtsgütern zu befürchten, ist diesen primär durch Auflagen entgegenzuwirken (Abs. 90).“(Entscheidung vom 22.02.2011).“

„ Die Bürger sollen damit selbst entscheiden können, wo sie ihr Anliegen – gegebenenfalls auch im Blick auf Bezüge zu bestimmten Orten oder Einrichtungen – am wirksamsten zur Geltung bringen können. (Abs. 64)“
Welcher Ort sollte das für uns sein wenn nicht der Hauptbahnhof Stuttgarts???

Nun zu den Verbotsbegründungen  der Stadtverwaltung und der Verwaltungsgerichtsbarkeit:
Am 31. Januar 2013, also vor bald einem Jahr, erließ die Stadtverwaltung in einem Schreiben an Carola Eckstein ein Versammlungsverbot für das Bahnhofsinnere. Angemeldet worden war von Carola eine Versammlung an einem Samstag mit 30 Teilnehmern und einer Dauer von zwei Stunden, für die nicht einmal öffentlich aufgerufen werden sollte. Ich will vorweg anmerken, dass der Kopfbahnhof für Montagsdemos vermutlich zu eng ist. Das tatsächliche Fassungsvermögen sollte aber von der Stadtverwaltung gemeinsam mit Vertretern unseres Protestes bestimmt und Demos sollten neben der Personenzahl auch in der Dauer einvernehmlich erheblich (z. B. auf 15 bis 30 Minuten) beschränkt werden.
Die Begründungen der Stadtverwaltung für das damalige Verbot lässt ein erhebliches Maß an Realitäts- und Rechtsverweigerung erkennen. Das Bundesverfassungsgericht hatte in seiner Entscheidung im Jahr 2011 zur Halle des Frankfurter Flughafens zum Begriff eines Öffentlichen Forums festgestellt:
Dieses ist dadurch charakterisiert, dass auf ihm eine Vielzahl von verschiedenen Tätigkeiten und Anliegen verfolgt werden kann und hierdurch ein vielseitiges und offenes Kommunikationsgeflecht entsteht …, wo die Verbindung von Ladengeschäften, Dienstleistungsanbietern, Restaurationsbetrieben und Erholungsflächen einen Raum des Flanierens schafft und so Orte des Verweilens und der Begegnung entstehen. Werden Räume in dieser Weise für ein Nebeneinander verschiedener, auch kommunikativer Nutzungen geöffnet und zum öffentlichen Forum, kann aus ihnen … auch die politische Auseinandersetzung in Form von kollektiven Meinungskundgaben durch Versammlungen nicht herausgehalten werden. (Abs. 70)
Dem entgegen behauptete die Stadtverwaltung:
Der Stuttgarter Hauptbahnhof ist im Gegensatz zur im Fraport-Entscheidung angesprochenen Örtlichkeit nicht zu Zwecken des Flanierens,  Verweilens und der Begegnung geschaffen worden, sondern soll der Abwicklung des Reiseverkehrs und den damit verbundenen Einkäufen (insbesondere Schnellimbisse und Verkauf von Reiselektüre) dienen. Über den Reisebedarf hinausgehende Einkaufsmöglichkeiten oder auch Erholungsflächen als Flächen der zwischenmenschlichen Begegnung und des Austauschs sind im Stuttgarter Hauptbahnhof nicht vorhanden.“
Da sollte doch die Bahn für den Fall, dass wir mal wieder auf einen verspäteten Zug warten und das nicht auf zugigen Bahnsteigen wollen, überall Schilder aufstellen:
 „HERUMSTEHEN UND HERUMGEHEN NICHT   VORGESEHEN UND DAHER VERBOTEN!“
Auch Straßen wurden und werden nicht für Fußgänger gebaut sondern für Kraftfahrzeuge. Trotzdem dürfen wir als Demonstranten auf ihnen demonstrieren.  Mit einer solchen Begründung eines generellen Demonstrations verbotes käme unsere Verwaltung bei einer Grundrechtsklage vor dem Verfassungsgericht wohl kaum durch. Und genau so abenteuerlich erscheinen mir die Begründungen der Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs in Mannheim, die Montagskundgebungen am Bahnhof plötzlich zu verbieten:
„Ein hinreichend großer Beachtungserfolg ist auch in der Lautenschlagerstraße, die unmittelbar in den Arnulf-Klett-Platz einmündet und von wo Sichtkontakt zum Hauptbahnhof besteht, gewährleistet (S.10).“
Zum einen: Eine solche Behauptung ist von Willkür geprägt. Woher will der VGH das wissen? Zum anderen: Wer hat darüber zu entscheiden, der VGH oder wir? Und noch deutlicher wird diese Willkür in der vom VGH von der Stadtverwaltung übernommenen Milchmädchenrechnung:
 „Die von der Antragsgegnerin errechnete Zahl von insgesamt ca. 8.300 Verkehrsteilnehmern überwiegt bei Weitem die Anzahl der Teilnehmer der Montagsdemonstrationen, die sich im Jahresverlauf  2013 auf durchschnittlich 1.500 Personen … belaufen hat (S. 10).“
Zwischen den beiden in Frage stehenden Rechten, dem auf „Leichtigkeit des Verkehrs“ und dem Demonstrationsrecht besteht ein qualitativer Unterschied, der nicht nach dem Mehrheitsprinzip, also rein quantitativ zu fassen ist. Das Recht auf Demonstrationen zur Stärkung demokratischer Willensbildung ist für das System von Demokratie und Rechtsstaat laut BvG „konstitutiv“, also unersetzlich. Verkehrstaus müssen demgegenüber in der Regel hingenommen werden. Ihnen soll nicht durch Verbote, sondern durch Auflagen, also für die Demonstranten hinnehmbare Einschränkungen begegnet werden. Außerdem hatte die Stadt drei Jahre Zeit, ein Prozedere der Verkehrsumlenkung für 30 oder 60 Minuten zu entwickeln.