Sonntag, 29. November 2015

Das Versammlungsrecht steht über dem Gesetz


Das Versammlungsrecht steht über dem Gesetz
und auch dem Bundesverfassungsgericht!
v. i. S. d. P. reinhart.vowinckel@web.de http://vowinckel.blogspot.de 30.11.2015
Die 5. Kammer des Stuttgarter Verwaltungsgerichts hat entschieden: Das Vorgehen von Polizei, und Staatsanwaltschaft am 30.09.2010, dem „Schwarzen Donnerstag“, war der Auffassung der fünf Richterinnen und Richter nach rechtswidrig. Vor allem werfen sie der damaligen Regierung Mappus und der Polizei vor, das Grundrecht der Bürger auf freie Versammlung missachtet und geleugnet zu haben, indem sie und die Nachfolgerregierung der Versammlung den Versammlungscharakter absprachen. Das ist ein bundesweit beachteter Erfolg der Stuttgarter Bürgerbewegung, den wir hüten, bewahren und pflegen sollten wie einen Schatz.
Aber noch ist er nicht in trocknen Tüchern. Zwar ist es eher unwahrscheinlich, dass die Landesregierung noch in die zweite Instanz geht. Das brächte mit Sicherheit schlechte Presse, und die Landtagswahlen stehen vor der Tür. Schlechte Presse könnte da Stimmen kosten. Aber sicher ist das nicht.
Entscheidend wird sein, wie die schriftliche Urteilsbegründung aussieht und wie darin mit dem zentralen Gegenargument der Landesregierung und ihrer Anwälte umgegangen wird. Das ist der Verweis auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 24.10.2001. In jenem Urteil ging es um eine mehrtägige Verkehrsblockade von über 600 Roma auf der Autobahn an der Schweizer Grenze bei Basel im Jahr 1990, die weiträumige Umleitungen und Umwege zur Folge gehabt hatte. Die von ihrer Abschiebung aus Deutschland bedrohten Roma wollten damals mit einem Aufsehen erregenden Marsch auf Genf und einer Kundgebung vor dem Flüchtlingshochkommissariat der Vereinten Nationen gegen die Roma-Politik deutscher Behörden und die Verletzung der Europäischen Flüchtlingskonvention demonstrieren. Damals gab es noch nicht die heutige „Willkommenskultur“. Aus der geplanten Demonstration für die Sache der Roma wurde eine Demonstration bei Basel.
Parallelen zwischen „Schwarzem Donnerstag“ und Autobahnblockade sind wohl unbestreitbar. Auch der spontanen Versammlung der Roma auf der Autobahn war vom Verfassungsgericht vor allem der Versammlungscharakter abgesprochen worden. Es geht also um mehr als um den möglichen Verlust von ein paar Wählerstimmen. Das Urteil widerspricht, jedenfalls indirekt, auch der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts, und die ist in diesem konkreten Fall des Roma-Urteils allen Gemeindeverwaltungen der Republik lieb und teuer. Vereinfacht sie doch das Verbot, die Auflösung oder auch die Zerschlagung von hartnäckigen Versammlungen.
Aber davon haben sich die unabhängigen Stuttgarter Richter offensichtlich nicht beeindrucken lassen. Und sie haben recht. Bereits das Roma-Urteil des Verfassungsgerichts im Jahr 2001 war ein Akt der Willkür. Und wenn nun jemand fragt, wie kannst Du als juristischer Laie so etwas sagen, dann antworte ich: Richter sind auch nur Menschen mit ihren ganz persönlichen oder auch professionsgebundenen Wertvorstellungen. Der seiner selbst bewusste Bürger darf sogar höchsten Richtern widersprechen. Es gibt bis heute in der Bundesrepublik keine „gefestigte Rechtsprechung“ zu demonstrativen, also in ihrem Wesen symbolischen, zeichenhaften Verkehrsbehinderungen. Verwaltungen und Regierungen und der Bundesgerichtshof tragen als Monstranz vermeintlicher politischer Vernunft eine „Staatsraison“ vor sich her: Widerstand gegen die Staatsmacht, und sei er noch so frei von Gewalttätigkeit, ist in der Demokratie ein Verbrechen. Das Versammlungsrecht ist jedoch ein Widerstandsrecht und deswegen für „die Politik“ unbequem. Deswegen ist die Rechtsprechung zu Sitzdemonstrationen auch so widersprüchlich und offensichtlich auch für Juristen oft verwirrend.
Art. 8 GG stellt nach internationalem Recht und gefestigter Rechtsprechung auch des Bundesverfassungsgerichts für den Schutz des Rechts auf Versammlungen nur zwei Bedingungen:
1. Der Zweck einer Versammlung, gleichgültig ob spontan oder angemeldet, ob zu Fuß, per Pobacke oder per Wohnwagen, muss von den sich Versammelnden als ein Beitrag zur öffentlichen politischen Kommunikation gedacht sein. Was zählt, ist der kommunikative Charakter der Demonstration als Beitrag zur politischen Meinungs- und Willensbildung. Nur darin besteht der allgemeine gesellschaftliche Wert von Versammlungen, nicht in ihren konkreten Zielsetzungen.
2. Die Versammlung muss im Wesentlichen friedlich sein, das heißt unbewaffnet und ohne Gewalttätigkeiten gegen Menschen oder Sachen. Ausschreitungen einzelner Versammlungsteilnehmer heben, wie auch das Verwaltungsgericht schon festgestellt hat, das Versammlungsrecht nicht auf.
Schauen wir uns unter diesen zwei Aspekten an, was das Verfassungsgericht zur Roma-Demo festhielt:
Zitat 1:
Nach den Feststellungen des Amtsgerichts zielte die Blockadeaktion der Roma und Sinti darauf, nach Verweigerung der Einreise in die Schweiz dennoch unbedingt ein Gespräch mit dem Hohen Flüchtlingskommissar in Genf zu erreichen und dafür die Einreise zu erzwingen. Darauf waren auch die parallel zur Blockade geführten Verhandlungen über die Einreise und über die Möglichkeit zur Beendigung der Aktion gerichtet (Roma-Urteil BVerfGE ….. Abs. 41).“
Zitat 2:
Das Amtsgericht hat zur Begründung der Verwerflichkeit des Handelns des Beschwerdeführers nachvollziehbar insbesondere auf die über 24 Stunden hinausgehende Dauer der Blockade abgestellt und im Rahmen der Strafzumessung in verfassungsrechtlich unbedenklicher Weise auch strafmildernd berücksichtigt, dass Anlass für die Aktion die Sorge um die Abschiebung und damit möglicherweise verknüpfte Gefahren für Leib und Leben war. (Roma-Urteil BVerfGE ….Abs. 69).“
Zitat 3:
Demgegenüber diente … die Blockade des Grenzübergangs an der Autobahn nicht, jedenfalls nicht in erster Linie, der Kundgebung einer Meinung oder der Erregung öffentlicher Aufmerksamkeit für ein kommunikatives Anliegen .“

Dem Vorsitzenden des Roma-Nationalkongresses wurde nicht „Unfriedlichkeit“ vorgeworfen, sondern lediglich Nötigung nach § 240 StGB, die selbsthilfeähnliche Durchsetzung eigener Forderungenund die Erzwingung des eigenen Vorhabens“. (Mit der strafrechtlichen Behandlung von Sitzdemonstratioinen werde ich mich im nächsten, meinem vierten Flyer zum Urteil des Stuttgarter Verwaltungsgerichts noch auseinandersetzen, pünktlich zur 300. Montagsdemo.) Aber der Versammlungscharakter der Autobahnblockade wurde einfach geleugnet, für mich nicht nachvollziehbar. Wer es im Jahr 1990 sehen wollte, der sah auch, dass es bei der gesamten Aktion um einen verzweifelten Appell an das europäische und insbesondere deutsche menschliche und politische Gewissen ging. Das Amtsgericht hat selbst eingeräumt, dass es um „Gefahren für Leib und Leben“ ging. (Zahlreiche Roma, insbesondere ihre Kinder, waren auf der Flucht von Ort zu Ort bereits erkrankt.) Und nach dem in den 90er Jahren mehrere tausend Roma und Sinti eine Duldung erhalten hatten, war diese Tatsache im Jahr 2001 noch unübersehbarer. Die von der europäischen Öffentlichkeit sehr wohl wahrgenommene politische Versammlung auf der deutschen Autobahn war der spontane Ersatz für die verhinderte Versammlung vor dem Gebäude des Hochkommissars für das Flüchtlingswesen, und sie dürfte eine weitaus stärkere kommunikative Wirkung entfaltet haben, als die geplante Versammlung in Genf hätte entfalten können. Die Roma wollten und mussten die Einreise in die Schweiz nicht erzwingen. Ihr Ziel hatten sie bereits erreicht. So wie die Versammlung am 30.09.2010 im Schlossgarten eine weitaus größere kommunikative Wirkung entfaltet hat als jede Montagsdemo.
In der Pressemitteilung des VG zum Urteil vom 11.11.2015 wird jedoch nicht auf den alles entscheidenden kommunikativen Charakter der Versammlung abgehoben. Vielmehr heißt es dort, „bei der Verhinderung der Baumfällarbeiten und der Errichtung des Grundwassermanagements habe es sich lediglich um ein Nahziel zur Erreichung des Fernziels der Verhinderung des Umbaus des Bahnknotens Stuttgart gehandelt“.Die Unterscheidung zwischen Nah- und Fernziel ist jedoch nicht sinnvoll und hilfreich. Die Landesregierung könnte daraus den Schluss ziehen: Aha, also doch nur „Verhinderungsblockade“. Von dieser Begründung habe ich in der mündlichen Vorstellung des Urteils auch nichts vernommen. Mit ihr würde das Verwaltungsgericht der Argumentation der Gegenseite in die Arme laufen. Die „Fernziele“ sind für die rechtliche Behandlung von Versammlungen ohne jede Bedeutung. Sie sind allein Sache der Demonstranten. Und auch das „Nahziel“ einer Behinderung – nicht Verhinderung! - gehört zur „Sprache“ von Versammlungen.

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