Dienstag, 21. November 2023

 

Polizeifreier Raum für eine Versammlung


Was ein F a n s c h a l r a u b alles auszulösen vermag ...


eine Anregung zum aktuellen Konflikt zwischen Stuttgarter Polizei und VfB-Fans


Bis vor Kurzem hat es, wie ich der Cannstatter Zeitung vom 16.11. entnehme, zur Vorbereitung auf Heimspiele des VfB die sogenannte S t a d i o n a l l i a n z gegeben, in der Polizei, Ordnungsbehörde, Clubvertreter und Hilfsorganisationen vor Heimspielen des VfB zusammengearbeitet haben. Das Polizeipräsidium hat dem Bericht nach jetzt jedoch die Reißleine gezogen und die Allianz „ausgesetzt“. Der Anlass: Traditionell trifft sich in den Stunden vor Heimspielen im Bereich des Vorplatzes beim Carl-Benz-Center die „aktive Fanszene“ des VfB. Ich habe einst auch schon dazu gehört. Man tauscht sich aus uns trinkt noch etwas, bevor es ins Stadion geht. Vor den letzten beiden Heimspielen hat, wie ich nun lese, das Stuttgarter Polizeipräsidium dort ein Polizeikommando postiert. Die dort versammelten Fans fühlen sich offensichtlich durch die für sie nicht verständliche Maßnahme diskriminiert und provoziert, beschimpfen die Polizisten und wollen, dass die Polizei sich von dort wieder zurückzieht.

Das Polizeipräsidium zeigt jedoch keinerlei Verständnis dafür. Polizeipräsident Markus Eisenbraun sieht in der Forderung „Macht- und Territorialansprüche“. Wenn die bloße Anwesenheit der Polizei für die Fans schon ein Problem sei, dann habe er damit Probleme. Für ihn ist die Forderung paradox: Die Polizei will die Fans vor sich selbst schützen, und die wollen ihr zum Dank dafür geradezu größenwahnsinnig einen „Platzverweis“ erteilen.

So heißt es zur Rechtfertigung der Maßnahme, es sei dort immer wieder zu kleineren Straftaten wie „Fanschalraub“ oder auch Körperverletzungen gekommen. In dem Bericht heißt es allerdings auch weiter, es habe vor dem Spiel gegen Borussia Dortmund elf Platzverweise für Fans gegeben, die sich aus Sicht der Polizei ihr gegenüber aggressiv verhalten tten. Ein mitgeführter Bereitschaftsrichter habe dabei in einem Fall Polizeigewahrsam angeordnet. Das heißt, zu den Delikten von Fans ist es erst auf Grund der von ihnen als provozierende und einschüchternde Machtdemonstration empfundenen Polizeipräsenz gekommen. Wenn es so war, dann beißt sich da auch eine Katze in den eigenen Schwanz.

Inzwischen haben sich laut Zeitungsbericht jedoch, für das Polizeipräsidium wohl unerwartet, auch die namhaften Fanclubs und der Fanbeauftragte hinter die scheinbar so absurde Forderung nach mehr Zurückhaltung der Stuttgarter Polizei gestellt und damit bei ihr eine Reizschwelle überschritten, denn das Polizeipräsidium setzt als Antwort darauf ausgerechnet die Zusammenarbeit mit der „Stadioninitiative“ aus, in der auch Vertreter der Fanclubs mitarbeiten, was nach einem Akt der Verzweiflung aussieht. So viel zur Lage, wie ich sie als Leser auf Grund des wertvollen Zeitungsberichts Christine Bilgers - hoffentlich richtig - verstehe.

Ich denke und hoffe, vielleicht habe ich einen brauchbaren Vorschlag, wie man an die Lösung des Konflikts herangehen könnte, auch wenn er als absurd erscheinen mag. Die Vorstellung der Fans von einem „polizeifreien“ Raum für ihre traditionellen Treffen vor dem Clubhaus, also innerhalb des öffentlichen Raumes, ist nicht so absurd, wie sie, insbesondere der Polizei, auf den ersten Blick erscheinen mag, und sie ist auch nicht neu. Sie wurde bereits vor 40 Jahren von niemand geringerem als dem Bundesverfassungsgericht entwickelt, und zwar in dem berühmten Brokdorf-Urteil vom 14.05.1985 zum Grundrecht der Versammlungsfreiheit. Um überflüssige Konflikte zwischen Versammlungsteilnehmern und Ordnungskräften möglichst zu vermeiden, empfahl das Bundesverfassungsgericht folgende Spielregel: „Dazu gehört neben der rechtzeitigen Klarstellung der Rechtslage, daß beiderseits Provokationen und Aggressionsanreize unterbleiben, daß die Veranstalter auf die Teilnehmer mit dem Ziel friedlichen Verhaltens und der Isolierung von Gewalttätern einwirken, daß sich die Staatsmacht - gegebenenfalls unter Bildung polizeifreier Räume - besonnen zurückhält und übermäßige Reaktionen vermeidet … (a.a.O. Rn. 83)“. Die Fangruppen verlangen also etwas für sich, vermutlich intuitiv, was ihnen im Grunde tatsächlich auch zusteht, ohne dass ihnen und der Polizei klar ist, warum das sogar nach Recht und Gesetz so ist.

Die Kontrahenten müssten sich als erstes einmal darüber klar werden und verständigen, notfalls mit Inanspruchnahme des Stuttgarter Verwaltungsgerichts, ob oder dass es sich bei den traditionellen Treffen der Fans vor dem VfB-Clubhaus nicht um eine bloße Ansammlung von Menschen handelt, die nichts miteinander zu tun haben, sondern – wie die Montagsdemos, um eine Versammlung im Sinne des Versammlungsrechts. Bei den Treffen der Fans vor dem VfB-Clubhaus handelt es sich m. E. nicht um eine zufällige A n - sammlung von Menschen, sondern um eine V e r- sammlung im Sinne des Artikels 8 des Grundgesetzes. Eine Versammlung unterscheidet sich juristisch gesehen von einer bloß zufälligen Ansammlung von Menschen dadurch, dass eine Personenmehrheit durch ein friedliches Anliegen miteinander verbunden ist.

Diese Verbundenheit ist konstitutiv und ausschlaggebend und nicht deren Deklaration und äußere Kennzeichnung seitens der sich Versammelnden. Wenn jemandem nicht bewusst ist, dass er sich – juristisch gesehen – in einer Versammlung bewegt, aber sich entsprechend verhält, wie das bei den Fans vor dem Clubhaus sicher der Fall ist, dann ändert das nichts an der juristischen Tatsache, dass es sich um eine Versammlung handelt, auch wenn es da den einen oder anderen „Ausreißer“ gibt.


Am Schwarzen Donnerstag wollte die Landesregierung nicht anerkennen, dass es sich bei der Protestversammlung im Schlossgarten um eine V e r sammlung handelte, aber das Verwaltungsgericht stellte fünf Jahre danach fest, dass es sich um eine Versammlung im Sinne des Versammlungsrechts gehandelt hatte und nicht die Versammlung, sondern der Polizeieinsatz gegen sie rechtswidrig gewesen war.

Die für die öffentliche Ordnung und Sicherheit zuständige Behörde müsste und sollte eigentlich diese Tatsache auch ohne gerichtliche Hilfe erkennen und respektieren, denn mit ihr ändert sich die Rechtslage nicht unerheblich. Bei einer bloßen Ansammlung gilt das allgemeine Polizeirecht. Für eine Versammlung gilt jedoch das Versammlungsrecht, konkret der Paragraf 15 des Versammlungsgesetzes, und das Grundrecht steht als Verfassungsrecht über dem allgemeinen Polizeirecht, das zum einfachen Gesetzesrecht gehört. Das Versammlungsgesetz übt gegenüber dem Polizeirecht eine Sperrwirkung aus (s.u.).


Zur Vergewisserung über die Rechtslage zum Abschluss als Hinweis noch zwei Urteilszitate:

Maßnahmen der Gefahrenabwehr gegen Versammlungen richten sich … nach dem Versammlungsgesetz ... Seine im Vergleich zum allgemeinen Polizeirecht besonderen Voraussetzungen für beschränkende Maßnahmen sind Ausprägungen des Grundrechts der Versammlungsfreiheit. Dementsprechend geht das Versammlungsgesetz als Spezialgesetz dem allgemeinen Polizeirecht vor.“ (Bundesverfassungsgericht 1BvR 1726 Rn. 18)

Maßnahmen, die die Teilnahme an einer Versammlung beenden - wie ein Platzverweis oder eine Ingewahrsamnahme - sind rechtswidrig, solange nicht die Versammlung gemäß § 15 Abs. 3 VersG aufgelöst oder der Teilnehmer auf versammlungsrechtlicher Grundlage von der Versammlung ausgeschlossen wurde.“ (Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart (5 K 1265/14 Rn 38) vom 18.11.2015 zum „Schwarzen Donnerstag“.



Reinhart Vowinckel

Bad Cannstatt

19.11.2023