Mittwoch, 9. Dezember 2015

Sitzblockaden: Auflehnung gegen die Rechtsordnung – von unten oder Auflehnung gegen die Rechtsordnung von oben?


Sitzblockaden: Auflehnung gegen die Rechtsordnung – von unten oder Auflehnung gegen die Rechtsordnung von oben?
V.i.S.d.P. reinhart.vowinckel@web.de http://vowinckel.blogspot.de 06.12.2015

Politisch motivierte Verkehrsblockaden werden in der Bundesrepublik, anders als z. B. in den USA, nach § 240 StGB als strafbare Nötigung geahndet. Das bedeutet: Nach angeblich „allgemeiner Anschauung“ ist eine Kriminalstrafe, z. B. für Nötigung
ein ehrenrühriges, autoritatives Unwerturteil über eine Verhaltensweise des Täters, der Vorwurf einer Auflehnung gegen die Rechtsordnung ...(BVerfGE 16.07.1969, Abs. 46).“
Eine demonstrative Verkehrsblockade demonstriert für unsere Rechtsprechung also in aller Regel kriminelle Auflehnung gegen unsere Rechtsordnung, eine absurde Deutung. Tatsächlich und auch rechtlich ist es genau umgekehrt. Nicht die demonstrative Verkehrsblockade signalisiert Auflehnung gegen unsere Rechtsordnung, sondern ihre Kriminalisierung durch die deutsche Justiz. Vor der Auseinandersetzung mit der strafrechtlichen Behandlung von Sitzdemonstrationen noch einmal eine Zusammenfassung grundrechtlicher Aspekte in vier Thesen:

1. These: Das Grundrecht der Versammlungsfreiheit wird allein durch die Gebote der Meinungsbildung und der Friedlichkeit eingeschränkt. Häufigkeit, Dauer und Ort einer Versammlung unter freiem Himmel und im öffentlichen Raum unterliegen verfassungsrechtlich deshalb allein der Bestimmung durch die Versammelten. Das gilt z.B. auch für die Lokalisierung von Montagsdemonstrationen vor dem Stuttgarter Hauptbahnhof, und sei es „nur“ zur Verteidigung der Versammlungsfreiheit selbst.

2. These: Die sogenannten „Fernziele“ (vergl. BGHSt 1 StR 5/88), z.B. der Verhinderung eines Krieges oder des Umweltschutzes sind für die grundrechtliche Behandlung von Versammlungen ohne jede Bedeutung. Das Versammlungsrecht ist politisch so neutral, wie ein Mensch nicht sein kann und auch nicht sein sollte.

3. These: Gegenüber dem „besonderen“ Grundrecht der Versammlungsfreiheit und dem hinter ihm stehenden generellen gesellschaftlichen Nutzen von politischen Versammlungen, gleich welcher Art, sind Verkehrsbelästigungen grundsätzlichsozialadaequat“ und nie verwerflich“. Und das nicht nur nach richterlichem Gutdünken. Daran ändert auch das so genannte „Recht auf Fortbewegungsfreiheit(s. Roma-Urteil) nichts. Die Rechtsprechung hat davon auszugehen, dass in aller Regel gerade erst durch eine gewisse Dauer der Verkehrsbehinderung Aufmerksamkeit der Medien und damit der Öffentlichkeit erreicht wird (vergl.1 BvR 388/05, 07.03.2011 Abs. 34). Eine Verrechnung mit dem bloßen Zwang, Umwege zu machen, ist unverhältnismäßig. Sie schwächt die Autorität des Versammlungsrechts und verletzt die Würde von Demonstranten als besonders verantwortungsbewussten Staatsbürgern, die einer ehrenamtlichen Tätigkeit nachgehen.

4. These: Der durch Verkehrsbehinderungen angerichtete Schaden für die „öffentliche Ordnung“ ist gering verglichen mit dem Schaden, der durch rechtswidrige Verbote und Bestrafungen angerichtet wird. Zum einen führt die Erniedrigung durch ein ehrenrühriges Urteil gerade gegen Staatsbürger, die ihrer Verantwortung für das Gemeinwohl mit Zivilcourage nachkommen, bei einem Teil der Demonstrierenden zu Frustration und Depression oder gar zu Staatsverdrossenheit, also zum Gegenteil von dem, wozu das Versammlungsrecht gedacht ist.
Zum anderen gerät durch eine solche Rechtspolitik auch das Versammlungsrecht selbst in Misskredit. Die Bürger werden zu einer eher verächtlichen als respektvollen Haltung gegenüber dem Versammlungsrecht und damit auch gegenüber dem Grundgesetz verführt und erzogen. Die erzieherische Funktion der Rechtsprechung sollte aber vielmehr gerade darin bestehen, dass der Bürger lernt: Grundgesetzgemäßes politisches Engagement, das Aufmerksamkeit verlangt, ist mehr als Belästigung. Es ist vielmehr eine in ihrem Wert weithin verkannte Form aufopferungsvoller ehrenamtlicher Betätigung.
Nun zur strafrechtlichen Behandlung von Sitzdemonstrationen. Da sieht es nicht viel anders aus.
Zum Versammlungsgesetz stellte das Verfassungsgericht einst fest:
Die bloße Gefährdung der öffentlichen Ordnung kann ein Versammlungsverbot … grundsätzlich nicht rechtfertigen ...(Verfassungsgericht im Jahr 2007 im Heiligendamm-Urteil Abs. 26).
Unter 'öffentlicher Ordnung' wird die Gesamtheit der ungeschriebenen Regeln verstanden, deren Befolgung nach den jeweils herrschenden sozialen und ethischen Anschauungen als unerläßliche Voraussetzung eines geordneten menschlichen Zusammenlebens innerhalb eines bestimmten Gebiets angesehen wird (Brokdorf-Urteil Abs.78).

Einfache Verstöße gegen Verkehrsregeln unterliegen jedoch der Straßenverkehrsordnung, also der „öffentlichen Ordnung“, und ziehen vielleicht ein Bußgeld nach sich, aber kein ehrenrühriges Strafurteil. Auch Nötigungen sind nur strafbar, wenn sie „verwerflich“ sind. Der „Straftatbestand“ der Verwerflichkeit gehört jedoch zum ungeschriebenen“, nicht vom Gesetzgeber entsprechend GG Art. 103 „bestimmten“ Recht. Also gehört auch die Verfolgung von Nötigungen zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung. Wenn aber die „bloße Gefährdung der öffentlichen Ordnung ein Versammlungsverbot … grundsätzlich nicht rechtfertigen“ kann, dann kann sie auch nicht zu einer Bestrafung führen.
Aber das ist alles graue Theorie, denn wir haben es mit einem politischen Dogma, einem geradezu religiösen Glaubenssatz (vergleiche Paulus an die Römer) zu tun, dem Dogma von der Unfehlbarkeit, in diesem Fall nicht der Kirche, sondern des Staates und --- seiner Richter und andererseits von der stets kriminellen Energie „militanter Minderheiten, denen die Argumente fehlen“ (vergl. Fernziele-Urteil des BGH). „Sitzblockaden“ sind demnach Demonstrationen „zivilen Ungehorsams“ gegenüber der Staatsmacht, eben „Auflehnungen gegen die Rechtsordnung“, Grundgesetz hin oder her, ganz „neutral“. Wir haben es also mit einem Relikt des historischen Absolutismus, des „Gottesgnadentums“ zu tun.

Deswegen sei an dieser Stelle an das einzige Gegengift gegen höchstrichterliche Selbstherrlichkeit erinnert, das „Bestimmtheitsgebot“ nach Art. 103 GG, ein weitgehend unbekanntes Grundrecht:
Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.“ (wortgleich in § 1 des heutigen Strafgesetzbuches.)
Bestimmt“ bedeutet zum einen, dass bei der Gesetzgebung der „Wortsinn aus der Sicht des Bürgers zu bestimmen“ ist (BvR 388/05 vom 07.03.2011 Abs. 21), zum anderen, dass allein der Gesetzgeber über den Schutz eines „Rechtsgutes“ durch Strafe zu befinden hat und Gerichte diese Entscheidung nicht korrigieren dürfen (vergl. Mutlangen-Urteil Abs. 66) . Der Bundesgerichtshof hat jedoch verschiedentlich sehr wohl „korrigiert“, und das nicht nur einfache Gesetze, sondern sogar das Grundgesetz, und das ausgerechnet in Sachen § 240 StGB. Der lautet auf Grund einer „Korrektur“ durch die Nationalsozialisten folgendermaßen:
1) „Wer einen Menschen rechtswidrig mit Gewalt oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung nötigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
(2) Rechtswidrig ist die Tat, wenn die Anwendung der Gewalt oder die Androhung des Übels zu dem angestrebten Zweck als verwerflich anzusehen ist.
Den zweiten Absatz hatte es bis zum Jahr 1943 gar nicht gegeben. Im Jahr 1952 sollte der BGH auf Nachfrage von Kollegen niederen Ranges erklären, wie „Verwerflichkeit“ die selbe Bedeutung haben könne wie „Rechtswidrigkeit“. Die Antwort lautete:
Hier fällt deshalb dem Richter die Aufgabe zu, an Stelle des Gesetzgebers durch unmittelbare Wertung zu entscheiden, ob die tatbestandsmäßige Nötigung im Einzelfalle rechtswidrig ist oder nicht ...(BGHSt 2, 194 18.03.1952 Abs. 7).“
Genau das ist jedoch nach Art. 103 sogar grundgesetzlich verboten. Aber so wurde es gemacht, bis heute. Der Richter entscheidet, was „Gewalt“ ist, und dass Gewalt Strafbarkeit bedeutet, obwohl der Paragraph ausdrücklich Strafbarkeit nur bei „verwerflicher“ Gewalt vorsieht und nicht bei jeder.