Freitag, 11. September 2015

BGH: Per Rechtsblockade gegen Sitzblockaden


reinhart.vowinckel@web.de --- 11. September 2015 ---- http://vowinckel.blogspot.de

AGENDA:
1. § 240 StGB (Nötigung) ist ein Rechtsprodukt des Nationalsozialismus und kann schon auf Grund seines Wortlauts nur um den Preis der Rechtsbeugung zur Kriminalisierung von Sitzblockaden herangezogen werden. „Gewalt“anwendung bedeutet nicht Strafbarkeit.

2. Der Bundesgerichtshof hat in der Deutung und Anwendung von § 240 StGB seit dem Jahr 1951 mit systematischer Desinformation eine absolutistische Tradition der Rechtsbeugung fortgesetzt bzw. für Sitzblockaden geschaffen, indem er das Strafrecht über das Grundrecht stellt. Absolutistisch bedeutet, der Bürger ist Mündel seiner Repräsentanten.

3. Der opportunistischen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in Sachen Sitzblockaden in den Jahren von 1986 bis 2001 fehlte es an „Solidität und Ernsthaftigkeit des Grundrechtsschutzes“. Das Verfassungsgericht hat sich dem Bundesgerichtshof gebeugt und so in seiner „Königsdisziplin“, dem Schutz der Grundrechte, versagt.
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Letzteres behaupte nicht nur ich, das stellte bereits im Jahr 1999 der im Jahr 1996 zum Verfassungsrichter ernannte Strafrechtler Winfried Hassemer (SPD) in einer Laudatio auf den vielfach ausgezeichneten Juristen und Publizisten Heribert Prantl zu dessen Kritik an der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts fest:

Es ist Urteilsschelte in schärfster Zuspitzung, und die trifft das Gericht genau an der Stelle, an der es verwundbar ist: bei Solidität und Ernsthaftigkeit des Grundrechtsschutzes.“ [22]

Das heißt, das Verfassungsgericht nimmt sogar nach Auffassung eines ehemaligen Verfassungsrichters die Grundrechte nicht ernst genug. Vermutlich hatte Hassemer bei dieser Feststellung auch folgenden Vorgang im Auge:
Im Jahr 1969 hatte der Bundesgerichtshof zum ersten Mal über die Behandlung von Sitzblockaden zu entscheiden. Im sogenannten „Laepple-Urteil“ erklärte er Sitzblockaden, die demonstrativ gewaltlos waren, zu gewalttätigen Akten des „Terrors“ militanter Minderheiten..
Nachdem die Kritik am Bundesgerichtshof immer lauter wurde und sogar zu einer Eingabe von 28 Professoren des Strafrechts beim Verfassungsgericht geführt hatte, hatte sich im Jahr 1986 zum ersten Mal auch das Verfassungsgericht mit dem Thema zu befassen. In seiner sogenannten „Mutlangen-Entscheidung“ standen sich jedoch vier zu vier Richter des 1. Senats unversöhnlich gegenüber. Eine Hälfte hielt das Laepple-Urteil für grundgesetzwidrig, die andere nicht. Das Gericht kam also zu keiner Entscheidung. Und so blieb es über mehrere weitere „Entscheidungen“ hinweg neun Jahre lang bis zum Jahr 1995.
Im Jahr 1995 gab es dann durch Neubesetzung vorübergehend eine Mehrheit von fünf zu drei Senatoren, die im „Großengstingen-Urteil“ das Laepple-Urteil tatsächlich für verfassungswidrig erklärte, leider jedoch mit einer, wie auch ich meine, nicht stichhaltigen Begründung (s. u.). Sechs Monate später fällte der BGH prompt, gestützt auf die Argumentation des dreistimmigen Minderheitsvotums im Urteil des Verfassungsgerichts, ein neues Urteil, das sogenannte „Zweite-Reihe-Urteil“. In ihm wurden Sitzblockaden mit Hilfe einer geänderten Argumentation erneut für „rechtswidrig“ erklärt. Eine tiefe Demütigung des Verfassungsgerichts, das sich von dieser rechtswidrigen Niederlage bis heute nicht erholt hat. Es hat die Überordnung des Strafrechts über das Grundrecht hingenommen.
Konsensfähigkeit oder opportunistische Bereitschaft zu faulen Kompromissen?

Die geschilderten Vorgänge lassen aufscheinen, dass die Persönlichkeit der Richter eine erheblich Rolle spielt und damit auch das Verfahren ihrer Auswahl. Das Verfahren ist seit einiger Zeit aus anderen Gründen umstritten. Es verstößt gegen das Grundgesetz. In Art. 94 GG heißt es dazu:

Das Bundesverfassungsgericht besteht aus Bundesrichtern und anderen Mitgliedern. Die Mitglieder des Bundesverfassungsgerichtes werden je zur Hälfte vom Bundestage und vom Bundesrate gewählt....“

Der Bundesrat hat sich an diese Bestimmung gehalten, der Bundestag jedoch nicht. Sowohl das Casting als auch die Wahl der Verfassungsrichter wird nicht vom Bundestag, sondern durch einen „Richterwahlausschuss“ von 12 Bundestagsabgeordneten durchgeführt. Das heißt, die übrigen 602 Bundestagsabgeordneten werden bei dieser wichtigen Entscheidung praktisch vor vollendete Tatsachen gestellt. Das ist bei anderen, vermutlich weniger wichtigen Ämtern wie den Ämtern des Wehrbeauftragten und des Präsidenten oder des Vizepräsidenten des Bundesrechnungshofs anders. Sie werden vom Bundestag gewählt. Dass die grundgesetzwidrige Regelung 60 Jahre gehalten hat, sagt auch einiges aus über die Bedeutung, die die Bundestagsabgeordneten dem Amt von Verfassungsrichtern und dem eigenen Amt beimessen.
Trotzdem hat sich inzwischen Kritik an diesem Verfahren entwickelt. In seiner Festrede vor dem Bundestag zum 65. “Geburtstag“ des Grundgesetzes bezeichnete sogar Bundestagspräsident Norbert Lammert das selbst für ihn intransparente bisherige Verfahren als des Bundestages und des Verfassungsgerichts „nicht würdig“.
Inzwischen hat sich der Bundestag fraktionsübergreifend darauf geeinigt, dass die abschließende Wahl in Zukunft nach einer Gesetzesänderung durch den Bundestag erfolgen soll. Das bedeutet jedoch Beschränkung auf Symbolpolitik. Ein wirklicher Fortschritt wäre erst die Öffentlichkeit und damit Transparenz des gesamten Verfahrens. Sie könnte erheblich dazu beitragen, dass die Öffentlichkeit und die Bürger das Grundgesetz, seine Funktion und seine Bedeutung kennenlernen.

Das sieht man jedoch beim Verfassungsgericht ganz anders. Der amtierende Verfassungsrichter Peter Huber (CSU/CDU) hat am 05. Oktober des Jahres 2014 stellvertretend für das Verfassungsgericht in Form eines Interviews mit dem Südwestrundfunk eine Stellungnahme zum Thema der Wahl der Verfassungsrichter abgegeben. Laut Presseerklärung des SWR teilte er mit:

„Dass die Wahl der Richter auch künftig ohne eine Bundestagsdebatte erfolgen soll, hält Huber für wichtig. Er verweist dabei auf die Richter des US-Supreme Courts, die sich einer öffentlichen Anhörung stellen müssen, was Huber sehr kritisch sieht. 'In den USA müssen Verfassungsrichter eine inhaltliche Agenda entfalten. Die unvoreingenommene, vorurteilsfreie Einlassung auf einen neuen Fall wird dadurch erheblich erschwert. Die Richter treten wie Politiker praktisch mit einem Regierungsprogramm an.' Beim Bundesverfassungsgericht sei das anders. Dort ringe man immer um eine Entscheidung, die von allen Richtern getragen werde. 'Das erfordert geistige und intellektuelle Freiheit, die verhindert wird, wenn ich mich nach außen auf eine bestimmte Linie festgelegt habe [21].'“

Amerikanische Verfassungsrichter sind also im Unterschied zu deutschen Verfassungsrichtern - wie Huber - intellektuell unfrei, und das wegen der Transparenz ihrer Bewerbungen? Da sollten sich unsere Verfassungsrichter schon etwas anderes einfallen lassen. Die oben geschilderte Blockade des 1. Senats widerlegt sie. Die Geschichte der fast ein Jahrzehnt andauernden Spaltung des 1. Senats des Verfassungsgerichts in Sachen Sitzblockaden und der unwürdige Ausgang des Machtkampfes mit dem BGH bzw. der BGH-Fraktion im Senat zeigt eher das Gegenteil. Diese Geschichte sollte auch für das Verfassungsgericht ein Anstoß sein, seine Haltung noch einmal gründlich und selbstkritisch zu überdenken. Amerikanische Richter haben den Mut, sich zu stellen, und sie müssen ihn haben. Unseren Verfassungsrichtern jedoch scheint er zu fehlen. Das wäre fatal.
Wer verbergen muss, dass er Fehler macht und dazu lernt, wie das in jedem neuen Amt zwangsläufig passiert, der taugt auch nicht für das Amt eines Verfassungsrichters. Wer etwas zu verbergen hat, ist nicht frei und damit auch nicht souverän, wie er es sein sollte, wenn er den Souverän nach bestem Gewissen und nicht nach Parteiraison vertreten will.
Es reicht nicht, dass der Bundestag in toto abstimmen darf. Wenn das Niveau der Arbeit des Verfassungsgerichts zukunftstauglich für kommende Herausforderungen auf ein höheres rechtliches und politisches Niveau gehoben werden soll, bedarf auch die Wahl der Verfassungsrichter dringend der öffentlichen Kontrolle. Sowohl die Verfassungsrichter wie auch die Bundestagsabgeordneten sollten sich durch Argumente schützen und nicht durch Intransparenz.
Wer Transparenz fürchtet, hat etwas zu verbergen. Wer nichts verbergen kann, hat auch nichts zu verbergen. Wer alles verbergen kann, hat auch immer etwas zu verbergen. Der Schutz vor Transparenz begünstigt Schwachheit und Korruption. Wir Menschen sind weder absolut gut noch absolut schlecht. Wir sind so gut und so schlecht, wie die politische, rechtliche, soziale, materielle und schließlich moralische Verfassung unserer Gesellschaft und des Staates es zulassen.
Es mag sein, dass es bei einer transparenten Wahl größere Schwierigkeiten geben würde, Kandidaten zu finden. Das wäre jedoch kein schlechtes, sondern ein gutes Zeichen. Es spräche für mehr Selbstvertrauen der Kandidaten als die kleinmütige Argumentation Hubers und für mehr Vertrauen in den Souverän. Wenn wir eine derartige Entscheidung von Befindlichkeiten der Kandidaten und Richter abhängig machen wollen und sollen, sind wir arm dran. Das Amt eines Verfassungsrichters ist ein ehrenvolles Amt, aber kein Ehrenamt. Das Verfassungsgericht sollte sich also auf eine überzeugendere, nicht absolutistische und „autoritative“ Begründung besinnen und mutig und vorbildlich in Richtung Demokratie voran gehen.
Ich wundere mich auch, dass ausgerechnet Huber mit einer derart schwachen Rechtfertigung daher kommt. Er hat doch durchaus schon Statur und intellektuelle Unabhängigkeit bewiesen, wenn er als Verfassungsrichter entgegen der Linie seiner Parteien gegen die Dreiprozenthürde bei Europawahlen oder für das Ehegattensplitting auch für homosexuelle Paare votierte. Meint er mit Unabhängigkeit vom Bundestag in Wahrheit die Unabhängigkeit von der Partei, deren Vertreter ihn vorgeschlagen und gewählt haben und das heißt vom Fraktionsvorstand? Wie der „SPIEGEL“ berichtete, gab es Unmut gerade über ihn im „Xantener Kreis“ um den CDU-Fraktionschef Volker Kauder:

Die Unionsabgeordneten beklagten, dass Karlsruhe mit seinen Urteilen eine Liberalisierung der Gesellschaft vorantreibe und dabei die eigenen Zuständigkeiten überschreite. Das Gericht mache Gesellschaftspolitik, sagte der ehemalige Verteidigungsminister und Verfassungsrechtler Rupert Scholz. … Besonders verärgert waren einige Teilnehmer der Runde über den amtierenden Richter Peter Huber, zuvor CDU-Innenminister in Thüringen. ... Huber tue so, als hätte er nie etwas mit der Union zu tun gehabt, hieß es [25].“

Man bezichtigt ihn dort also anscheinend quasi des Verrats an der Partei. Das läuft darauf hinaus, sogar Verfassungsrichter der Fraktionsdisziplin zu unterwerfen. Wenn etwas Verfassungsrichter „intellektuell unfrei“ macht, dann so etwas. Wenn solche grundgesetzwidrige Hinterzimmerpolitik oder die Loyalität gegenüber dem „Stall“, aus dem man z. B. als ehemaliger Bundesrichter kommt, das eigentliche Problem ist, gerade dann verhilft argumentative Öffentlichkeit noch am ehesten zu „intellektueller Freiheit“.



Die „Kopernikanische Wende“ von 1947 bis 1949

Der Jurist und Publizist Christian Bommarius bringt in seiner „Biographie“ des Grundgesetzes auf den Punkt, worin sich die „freiheitlich-demokratische Grundordnung“ der Bundesrepublik von allen vorhergehenden mehr oder weniger absolutistischen staatlichen Ordnungen, auch der der Weimarer Republik („Präsidialdiktatur“), unterscheidet. Es ist die unmittelbare Geltung der Grundrechte als Gewähr für die politische Souveränität der Staatsbürger, die Ablösung des „Gottesgnadentums“ sozusagen durch „Bürgersgnadentum“, die Bommarius als „kopernikanische Wende“ bezeichnet:

Nicht erst die Autoren des Grundgesetzes, sondern die Autoren der Länderverfassungen haben den Staat vom Sockel gestoßen und die Person an seine Stelle gesetzt [17 S. 117].“ „Dass der Staat künftig der Freiheit seiner Bürger zu dienen habe und nicht umgekehrt der Bürger der Sicherheit des Staates, verpflichtete diesen auf eine ungewohnte Rolle, die er offensichtlich erst noch üben musste.“ [17 S. 123]

Wenn sie auch in vieler Hinsicht keineswegs einig waren, so waren sich doch Konrad Adenauer (CDU) und Carlo Schmid (SPD) 1949 in einem Punkt einig: Die Grundrechte sollten überstaatlich und unanfechtbar sein, anders als auch in der Weimarer Republik. Die Rechtsprechung zu Sitzblockaden, den kleinen Volksabstimmungen, demonstriert jedoch anschaulich, dass der Staat Bundesrepublik Deutschland diese Rolle auch heute und auch in Zukunft erst noch üben muss.

Die meisten Vertreter unserer Staatsgewalten mögen keine Volksabstimmungen. Wäre es anders, hätten wir sie längst auch auf Bundesebene. Das Grundgesetz jedenfalls hindert uns nicht daran. Artikel 20 GG lautet in seinen beiden ersten Absätzen:

(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.
(2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.“

Internationale Vorbilder für das Grundgesetz waren im Jahr 1949 die Verfassungen von repräsentativen Demokratien wie in der Schweiz, in Frankreich, England oder den USA, in denen es das Instrument der Volksabstimmung ganz selbstverständlich gibt. Aus Artikel 20 geht klar hervor, dass das deutsche Volk die Staatsgewalt nicht nur indirekt durch Wahlen von Repräsentanten, sondern auch direkt durch Abstimmungen in Sachfragen ausüben sollte.
Ohne das Instrument der Volksabstimmung ist schließlich auch die Souveränität eines Volkes nicht komplett. Wenn im Grundgesetz des Jahres 1949 Volksabstimmungen auf nationaler, also Bundesebene, zum Beispiel über das Grundgesetz, nicht vorgesehen wurden, so hatte das zwei Gründe. Zum einen war das deutsche Volk gespalten. Eine Abstimmung des deutschen Volkes war also praktisch nicht möglich. Zum anderen waren damals noch über 60 Prozent der Deutschen davon überzeugt, die Nationalsozialisten hätten zwar Fehler gemacht, aber das Richtige gewollt. Hier ein Beispiel für die Selbstgefälligkeit und damalige Unbelehrbarkeit auf höchster Ebene und wem wir neben einigen aufgeklärten Deutschen unsere heutigen freiheitlichen Länderverfassungen und das Grundgesetz zu verdanken haben:

Um einen künftigen Zusammenschluss der Länder Württemberg-Baden (amerikanische Zone) und Württemberg-Hohenzollern (französische Zone) nach dem Ende der Besatzungszeit nicht zu gefährden, setzte sich Carlo Schmid [SPD] bei der französischen Militärregierung Ende 1946 dafür ein, die bereits beschlossene Verfassung Württemberg-Badens für Württemberg-Hohenzollern zu übernehmen. Dagegen wehrte sich erfolgreich der württembergisch-hohenzollernsche CDU-Politiker Lorenz Bock – wenig später Staatspräsident des Landes - , der um jeden Preis die Übernahme einer von einem Sozialdemokraten geschriebenen Verfassung verhindern wollte. Daraufhin war Bock selbst mit der Ausarbeitung einer Verfassung beauftragt worden, bei der ihn der damals 77 Jahre alte Präsident des Oberlandesgerichts Tübingen, Emil Niethammer, unterstützte. Bis zu seiner Pensionierung 1937 war Professor Niethammer Reichsgerichtsrat in Leipzig gewesen, nach 1945 mit einem der ersten nach dem Krieg publizierten juristischen Aufsätze zur 'Fortdauernden Wirksamkeit der Entscheidungen des Reichsgerichts' hervorgetreten. Darin hatte er die Rechtsprechung des Reichsgerichts in der NS-Zeit gelobt, es habe alle Entscheidungen 'auf Menschlichkeit, Wahrheit und Gerechtigkeit ausgerichtet'. Um jedem Zweifel vorzubeugen, hatte Niethammer hinzugesetzt: 'Das gilt grundsätzlich für alle Entscheidungen – also auch für die Rassenschande-Urteile des Reichsgerichts, also auch für seine Rechtsprechung zum 'bürgerlichen Tod' der Juden.'
Die französische Militärregierung hat dem Bock-Niethammer-Entwurf im März 1947 die Zustimmung verweigert – er sei autoritär und entschieden undemokratisch. Erst ein neuer, zwischen den Christdemokraten und Carlo Schmid ausgehandelter Kompromiss wurde genehmigt.“[17 S. 123]

Eine Volksabstimmung wäre also für Demokraten selbstmörderisch gewesen. Erst die Frankfurter Auschwitz-Prozesse in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts öffneten den Deutschen die Augen über den menschenverachtenden Charakter des Nationalsozialismus.

Mit der Wiedervereinigung in den Jahren 1989/90 waren die beiden genannten nachvollziehbaren Gründe des Jahres 1949 jedoch Geschichte. Weder gab es die Gefahr einer nationalsozialistisch noch die Gefahr einer kommunistisch ausgehenden Volksabstimmung, und die Wende in der DDR war gerade durch eine „Volksabstimmung mit den Füßen“ möglich geworden. Das heißt, wenn die drei Staatsgewalten, 1. Bundestag und Bundesrat, 2. Bundesregierung samt Generalbundesanwaltschaft und 3. die Justiz, an der Spitze der Bundesgerichtshof und das Bundesverfassungsgericht, das Grundgesetz im Jahr 1990 wirklich ernst genommen hätten, dann hätten sie es auch gewagt, den genau für eine solche Volksabstimmung vorgesehenen Passus in der sogenannten Präambel des Grundgesetzes umzusetzen, der da lautete:

Das gesamte Deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden.“

Dieser Passus bedeutete eine weitere Aufforderung zur Volksabstimmung auf allerhöchster Ebene. Sie wurde jedoch missachtet.

BVerfG: Politische Demonstrationen sind Akte direkter Demokratie.

GG Art 8 zur Versammlungsfreiheit lautet im ersten Absatz:

Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln.“

Im Gegensatz zum „Laepple-Urteil“ des BGH (s. u.) wurde in einem Urteil des Verfassungsgerichts im Jahr 1992 ausdrücklich festgehalten, dass auch Sitzblockaden den Schutz des Versammlungsrechts genießen:

Auch Sitzblockaden genießen den Schutz der Versammlungsfreiheit. Sie erfüllen unabhängig davon, ob sie als Anwendung von Gewalt im Sinn von § 240 StGB anzusehen sind, nicht den Tatbestand der Unfriedlichkeit im Sinn von Art. 8 Abs. 1 GG, der sie dem Schutzbereich dieses Grundrechts entziehen würde [6 Abs. 35].“(Versammlungsauflösung)

Es gibt jedoch verschiedene Hierarchien im Rechtssystem. Auf der obersten Ebene, der der Grundrechte, sind es zum einen die politischen Grundrechte der freien Meinungsäußerung nach GG Art 5, der Versammlungsfreiheit nach Art. 8 GG sowie des Rechts zum Widerstand gegen „Verfassungsfeinde“ nach Art. 20 Abs. 4 GG. Den politischen Grundrechten stehen die Grundrechte der individuellen und mehr oder weniger privaten Persönlichkeitsentfaltung gegenüber. Umrahmt werden sie alle von Artikel 1 GG, dem Recht, in Würde, das heißt in freier Selbstbestimmung zu leben.
Die politischen Grundrechte dienen zwar auch der individuellen Persönlichkeitsentfaltung, sie dienen darüber hinaus jedoch auch noch der unmittelbaren Entwicklung und Entfaltung der Gesellschaft. Deswegen sprach das Verfassungsgericht auch in seinen zwei richtungweisenden Urteilen den Grundrechten der Meinungs- und insbesondere dem der Versammlungsfreiheit einen „besonderen Rang“ zu (s. u.).
Versammlungen können unter Umständen auch verboten oder durch Auflagen der Verwaltung oder der Verwaltungsgerichtsbarkeit bestimmten Einschränkungen unterworfen werden. So heißt es in Paragraph 15 des Versammlungsgesetzes:

(1) Die zuständige Behörde kann die Versammlung oder den Aufzug verbieten oder von bestimmten Auflagen abhängig machen, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung oder des Aufzuges unmittelbar gefährdet ist.“(§ 15 VersG)

Demgegenüber stellte das Verfassungsgericht jedoch im Heiligendamm-Urteil ausdrücklich fest:

Auf keinen Fall kann ein Versammlungsverbot oder eine einem Versammlungsverbot in der Wirkung gleich kommende Auflage auf Erwägungen gestützt werden, wie sie sonst im Rahmen des Schutzguts der öffentlichen Ordnung zu erfolgen haben. § 15 Abs. 1 VersG ist nur dann mit Art. 8 GG vereinbar, wenn bei seiner Auslegung und Anwendung sichergestellt bleibt, dass Verbote nur zum Schutz wichtiger Gemeinschaftsgüter unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und nur bei unmittelbaren, aus erkennbaren Umständen herleitbaren Gefährdungen dieser Rechtsgüter erfolgen.“ [9 Abs. 27] (Heiligendamm)

Hinter dem Versammlungsrecht stehe eine Grundentscheidung, „die in ihrer Bedeutung über den Schutz gegen staatliche Eingriffe in die ungehinderte Persönlichkeitsentfaltung“ hinausreiche:

Als Abwehrrecht, das auch und vor allem andersdenkenden Minderheiten zugute kommt, gewährleistet Art. 8 GG den Grundrechtsträgern das Selbstbestimmungsrecht über Ort, Zeitpunkt, Art. und Inhalt der Veranstaltung und untersagt zugleich staatlichen Zwang, an einer öffentlichen Versammlung teilzunehmen oder ihr fernzubleiben. Schon in diesem Sinne gebührt dem Grundrecht in einem freiheitlichen Staatswesen ein besonderer Rang; das Recht, sich ungehindert und ohne besondere Erlaubnis mit anderen zu versammeln, galt seit jeher als Zeichen der Freiheit, Unabhängigkeit und Mündigkeit des selbstbewußten Bürgers. In ihrer Geltung für politische Veranstaltungen verkörpert die Freiheitsgarantie aber zugleich eine Grundentscheidung, die in ihrer Bedeutung über den Schutz gegen staatliche Eingriffe in die ungehinderte Persönlichkeitsentfaltung hinausreicht. ...“ [3 Abs.62] (Brokdorf-Urteil)

Staatliche Institutionen wie Verwaltungen und Gerichte dürfen deswegen nicht mit Mitteln des Strafrechts oder auch des Ordnungsrechts von der Wahrnehmung des Versammlungsrechts abschrecken und es damit tendenziell außer Kraft setzen. Die Bayern z. B. haben es mit einem eigenen bayrischen Versammlungsgesetz versucht und sind glücklicher Weise damit vor dem Bundesverfassungsgericht gescheitert.
Das Verfassungsgericht begründete das im „Brokdorf-Urteil“ damit, politische Versammlungen seien ein Stück unmittelbarer Demokratie, also ein Element der Volksabstimmung:

Versammlungen ... enthalten ein Stück ursprünglich-ungebändigter unmittelbarer Demokratie, das geeignet ist, den politischen Betrieb vor Erstarrung in geschäftiger Routine zu bewahren ...
Namentlich in Demokratien mit parlamentarischem Repräsentativsystem und geringen plebiszitären Mitwirkungsrechten hat die Versammlungsfreiheit die Bedeutung eines grundlegenden und unentbehrlichen Funktionselementes. Demonstrativer Protest kann insbesondere notwendig werden, wenn die Repräsentativorgane mögliche Mißstände und Fehlentwicklungen nicht oder nicht rechtzeitig erkennen oder aus Rücksichtnahme auf andere Interessen hinnehmen (...). In der Literatur wird die stabilisierende Funktion der Versammlungsfreiheit für das repräsentative System zutreffend dahin beschrieben, sie gestatte Unzufriedenen, Unmut und Kritik öffentlich vorzubringen und abzuarbeiten, und fungiere als notwendige Bedingung eines politischen Frühwarnsystems... [3 Abs.67). (Brokdorf-Urteil)“

Verhältnismäßigkeit oder das Problem mit asymmetrischer Dialektik

Diese Seite des Versammlungsrechts wird allerdings vor allem von der Rechtsprechung im Kielwasser des Bundesgerichtshofs noch viel zu oft zu wenig begriffen und wahrgenommen. Der BGH ignoriert das Brokdorf-Urteil Und dafür trägt auch das Verfassungsgericht erhebliche Mitverantwortung. Bereits in seinem „Lüth-Urteil“ im Jahr 1958 zum Recht auf freie Meinungsäußerung hatte das Verfassungsgericht in anderer Zusammensetzung eine sehr wichtige Feststellung bezüglich des Verhältnisses von Grundrecht und „allgemeinem“ Recht, also auch Strafrecht getroffen, auf die im Brokdorf-Urteil dann auch Bezug genommen wurde:

Aus dieser grundlegenden Bedeutung der Meinungsäußerungsfreiheit für den freiheitlich- demokratischen Staat ergibt sich, daß es vom Standpunkt dieses Verfassungssystems aus nicht folgerichtig wäre, die sachliche Reichweite gerade dieses Grundrechts jeder Relativierung durch einfaches Gesetz (und damit zwangsläufig durch die Rechtsprechung der die Gesetze auslegenden Gerichte) zu überlassen. Es gilt vielmehr ...: die allgemeinen Gesetze müssen in ihrer das Grundrecht beschränkenden Wirkung ihrerseits im Lichte der Bedeutung dieses Grundrechts gesehen und so interpretiert werden, daß der besondere Wertgehalt dieses Rechts … auf jeden Fall gewahrt bleibt. Die gegenseitige Beziehung zwischen Grundrecht und "allgemeinem Gesetz" ist also nicht als einseitige Beschränkung der Geltungskraft des Grundrechts durch die "allgemeinen Gesetze" aufzufassen; es findet vielmehr eine Wechselwirkung in dem Sinne statt, daß die "allgemeinen Gesetze" zwar dem Wortlaut nach dem Grundrecht Schranken setzen, ihrerseits aber aus der Erkenntnis der wertsetzenden Bedeutung dieses Grundrechts im freiheitlichen demokratischen Staat ausgelegt und so in ihrer das Grundrecht begrenzenden Wirkung selbst wieder eingeschränkt werden müssen [1 Abs. 34] (Lüth-Urteil).“

Das Recht ist hierarchisch geordnet. Grundrecht ist nicht gleich Grundrecht, sonst gäbe es nicht Grundrechte von „besonderem Rang(s. o.). Es waltet also eine besondere, asymmetrische Dialektik zwischen verschiedenen persönlichen Grundrechten einerseits und persönlichen und außerdem politischen Grundrechten und Strafrecht andererseits, die für die Realisierung des Prinzips der Verhältnismäßigkeit wichtig ist. Das heißt, schon die Beziehung zwischen dem Versammlungsrecht und etwa dem Grundrecht eines Fahrzeugführers auf Selbstbestimmung, z. B. gerade aus und nicht einen Umweg zu fahren, ist asymmetrisch.
Und es gibt schließlich auch noch den Bedeutungsunterschied zwischen dem Recht der „öffentlichen Sicherheit“ und dem der „öffentlichen Ordnung“, wie das Verfassungsgericht ihn im Brokdorf-Urteil im Jahr 1985 wiedergegeben hat:

Die genannten Begriffe haben ...- wie der Bundesminister des Innern zutreffend darlegt - durch das Polizeirecht einen hinreichend klaren Inhalt erlangt (...). Danach umfaßt der Begriff der 'öffentlichen Sicherheit' den Schutz zentraler Rechtsgüter wie Leben, Gesundheit, Freiheit, Ehre, Eigentum und Vermögen des Einzelnen sowie die Unversehrtheit der Rechtsordnung und der staatlichen Einrichtungen...
Unter 'öffentlicher Ordnung' wird die Gesamtheit der ungeschriebenen Regeln verstanden, deren Befolgung nach den jeweils herrschenden sozialen und ethischen Anschauungen als unerläßliche Voraussetzung eines geordneten menschlichen Zusammenlebens innerhalb eines bestimmten Gebiets angesehen wird [3 Abs.78] (Brokdorf-Urteil ).“

Das Verfassungsgericht hat nicht zufällig in diesem Zusammenhang auf den Unterschied zwischen dem „Schutzgut“ der öffentlichen Sicherheit durch das „Polizeirecht“, und dem der öffentlichen Ordnung, dem „Schutzgut“ der ungeschriebenen Regeln, hingewiesen. Im Versammlungsgesetz des Jahres 1953 werden öffentliche Sicherheit und öffentliche Ordnung noch auf eine Stufe gestellt. Im Brokdorf-Urteil wird jedoch eine Asymmetrie auch zwischen Sicherheit und Ordnung angedeutet. Für Eingriffe in das Versammlungsrecht muss es um ein „wichtiges Gemeinschaftsgut“ und dessen „unmittelbare“, also nachgewiesen akute Gefährdung gehen, und die Beeinträchtigung des Versammlungsrechts soll dabei im Sinne der Verhältnismäßigkeit möglichst minimiert werden. Bei einer Gefährdung der öffentlichen Ordnung jedoch, also derungeschriebenen Regeln der jeweils herrschenden sozialen und ethischen Anschauungen“, sind solche Eingriffe demnach in der Regel nicht angemessen.
Ein Beispiel, wie unangemessen häufig richterliche Versuche sind, das Verhältnismäßigkeitsprinzip umzusetzen, ist ein Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg in Mannheim:

Im Rahmen der Abwägung darf die Zahl der durch die Versammlung beeinträchtigten Verkehrsteilnehmer einerseits und die Zahl der Demonstranten andererseits berücksichtigt werden. Auch die durch Widmung festgelegte Zweckbestimmung der für die Versammlung vorgesehenen Verkehrsfläche sowie Dauer und Häufigkeit von Versammlungen zum selben Thema dürfen berücksichtigt werden [24]. (VGH Mannheim)“

Das würde heißen, mit der Zahl von Versammlungen schwindet deren Bedeutung und damit arithmetisch auch das Recht darauf, sich zu versammeln. Das hat mit einer Abwägung im Sinne qualitativer Verhältnismäßigkeit nichts mehr zu tun. So argumentiert jedoch auch die Stuttgarter Stadtverwaltung hinsichtlich der „Montagsdemonstrationen“ gegen S21 vor dem Hauptbahnhof. Sowohl Zeitpunkt als auch Ort der Demonstration sind jedoch vom Bürger zu bestimmen. Solche Fragen können allenfalls nach dem Konsensprinzip, also auf freiwilliger Basis entschieden werden, nicht jedoch „par ordre de mufti“.

Ein anderes Beispiel für die Überforderung von Richtern bietet das Urteil eines Stuttgarter Amtsrichters zu einer Sitzblockade:

Die Rechte Dritter seien eingeschränkt worden und in der Abwägung zwischen dem Artikel 8 des Grundgesetzes und dem Recht des Individuums auf freie Entfaltung, müsse das Grundgesetz zurückstehen“. [23] (Verhandlungsbericht Petra Brixel)
Das Grundgesetz muss jedoch nie zurückstehen. Wer das 'Recht auf freie Entfaltung in Anspruch nimmt, z. B. im Straßenverkehr, nimmt damit das Grundgesetz in Anspruch, nicht anders als der, der mit einer Sitzblockade das Versammlungsrecht in Anspruch nimmt. Das gehört zum Einmaleins des Rechts. Solchen Urteilen sind Sitzblockierer jedoch bis heute vielfach ausgeliefert, und dafür trägt auch das Verfassungsgericht in seiner Nähe zum BGH eine erhebliche Mitverantwortung.

Sitzblockierer üben eine ehrenamtliche soziale Tätigkeit aus.

Zur Unterscheidung zwischen Straftat und Ordnungswidrigkeit zitierte das Verfassungsgericht in seinem Urteil zum Ordnungswidrigkeitengesetz im Jahr 1969, dem Jahr auch des Laepple-Urteils:

Zwar wirken sich die Geldstrafe und die Geldbuße finanziell gleichermaßen nachteilig für den Betroffenen aus. Sie unterscheiden sich jedoch dadurch, daß nach allgemeiner Anschauung mit der Verhängung einer Kriminalstrafe ein ehrenrühriges, autoritatives Unwerturteil über eine Verhaltensweise des Täters, der Vorwurf einer Auflehnung gegen die Rechtsordnung und die Feststellung der Berechtigung dieses Vorwurfs verbunden sind (…)...So etwas landet dann schnell auch im polizeilichen Führungszeugnis oder der Personalakte.)
Demgegenüber wird die an eine Ordnungswidrigkeit geknüpfte Geldbuße lediglich als eine nachdrückliche Pflichtenmahnung angesehen und empfunden, die keine ins Gewicht fallende Beeinträchtigung des Ansehens und des Leumundes des Betroffenen zur Folge hat, mag sie dessen Vermögen auch ebenso stark belasten wie eine vergleichbare Geldstrafe. Ihr fehlt der Ernst der staatlichen Strafe (…) [2 Abs. 46] (BVerfGE Ordnungswidrigkeiten-Urteil).“

Eine Geld- oder Gefängnisstrafe bedeutete also ein „Unwerturteil“ und dient der gesellschaftlichen Ausgrenzung. Wegen einer Sitzblockade bestrafte Bürger haben z. B. keine Chance mehr, bei einer deutschen Bank angestellt zu werden. Die Behandlung von Sitzblockaden als kriminelle Taten verletzt jedes Maß.
Wer demonstriert, nimmt zunächst einmal sein Grundrecht auf Persönlichkeitsentfaltung wahr, das Recht, in der Öffentlichkeit auf Probleme und Lösungsmöglichkeiten aufmerksam zu machen. Damit trägt er zugleich gewissermaßen zur gesellschaftlichen politischen „Wertschöpfung“ bei, und das nicht nur subjektiv, sondern auch objektiv, wie im Brokdorf-Urteil herausgearbeitet wurde. Der Staat hat deswegen Demonstrationen nicht nur zu dulden, sondern sogar zu fördern, weil Demonstrationen die mögliche Politik bereichern und die Mitbestimmung des „Souveräns“ fördern.
Wer Gold (z. B. Demokratie) sucht, „erntet“ zunächst einmal Geröll, das er in vielen mühsamen Filterprozessen auswäscht, bis nur noch das gesuchte Gold bleibt. Ähnlich funktioniert im Ideal die demokratische Gesellschaft mit direktdemokratischen Rechten. Durch viele Prozesse nicht von der Obrigkeit per Vorauswahl gesteuerter und gelenkter Massenkommunikation (Geröll) bilden sich aus zahllosen Minderheitsmeinungen (Der BGH spricht grundsätzlich abwehrend und diskriminierend von „Mindermeinungen“ [15 Abs. 23]) wenige mehr oder weniger tragfähige und gefestigte Mehrheitsmeinungen (Gold).
Gefragt ist bei der Abwägung der Rechte der von Sitzblockaden negativ Betroffenen und der Rechte von Demonstranten die „hohe Kunst“ der Wahrung des Prinzips der Verhältnismäßigkeit, Verhältnismäßigkeit nicht im quantitativen, sondern im qualitativen Sinn. Bei Demonstrationen sitzt gewissermaßen immer außer Demonstranten und Betroffenen noch die Zukunft der Gesellschaft mit im Boot. Jede Demonstration weckt Bürger aus dem Alltagstrott und regt zum Nachdenken über das Gemeinwohl an, gleichgültig ob zustimmend oder ablehnend. Sie dient damit der Souveränität des Volkes.
Die asymmetrische Dialektik der Abwägung von Grundrecht und Grundrecht sowie Grundrecht und allgemeinem Recht ist also gewissermaßen „höhere Mathematik“ des Rechts. Die aber ist vielen Richtern bei Demonstrationsdelikten nicht zugänglich, und das mit Sicherheit maßgeblich aufgrund eines negativen höchstrichterlichen Vorbilds, aber wohl auch, weil sie anscheinend in der Ausbildung von Richtern bis heute gar nicht oder nicht ausreichend gelehrt und „geübt“ wird.
Schließlich soll der Staat, also hier der Richter, die Bürger vor dem Staat, also vor sich selbst, schützen [vergl. 3 Abs.62]. Das bedeutet sicherlich bis heute eine tendenzielle strukturelle, systemische Überforderung unserer Justiz. Da halten sich dann verständlicher Weise zu viele wie der Mannheimer Verwaltungsgerichtshof (s. o.) doch lieber an das „Kleine Einmaleins“.

Das Bestimmtheitsgebot – ein Grundrecht das k(aum)einer kennt

Es gibt ein Grundrecht, das kaum ein Bürger kennt, es sei denn, er ist Jurist. Es steht auch nicht unter den 17 Grundrechten, die den ersten Teil des Grundgesetzes bilden. Es findet sich vielmehr im zweiten Absatz des Artikels 103 GG versteckt, aber es bildet wortgleich nicht zufällig auch den ersten Paragraphen des Strafgesetzbuches:

Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.

Man nennt es das Bestimmtheitsgebot oder auch Analogieverbot. Damit ist laut Auslegung durch das Verfassungsgericht gemeint: Ein Gericht, und sei es das höchste, darf nicht eine Tat für strafbar erklären, für die nicht vom Gesetzgeber vorher eine Strafe „bestimmt“ wurde:

... Der Gesetzgeber hat zu entscheiden, ob und in welchem Umfang er ein bestimmtes Rechtsgut, dessen Schutz ihm wesentlich (und notwendig) erscheint, gerade mit den Mitteln des Strafrechts verteidigen will. Den Gerichten ist es verwehrt, seine Entscheidung zu korrigieren. Führt erst eine über den erkennbaren Wortsinn der Vorschrift hinausgehende "Interpretation" zu dem Ergebnis der Strafbarkeit eines Verhaltens, so darf dies nicht zu Lasten des Bürgers gehen. Die Gerichte müssen daher in Fällen, die vom Wortlaut einer Strafnorm nicht mehr erfaßt sind, zum Freispruch gelangen [3 Abs. 66] (Mutlangen-Urteil) .“

Die Gesetzgebung steht über der Rechtsprechung und nicht umgekehrt. Aber es geht nicht nur um den Gesetzesvorbehalt im Strafrecht und dass der Richter weiß, was er bestrafen darf oder muss, und was nicht, sondern auch darum, dass der Bürger es klar erkennen kann:

Da Art. 103 Abs. 2 GG Erkennbarkeit und Vorhersehbarkeit der Strafandrohung für den Normadressaten verlangt, ist dieser Wortsinn aus der Sicht des Bürgers zu bestimmen [10 Abs. 21].“

Und das ist bei § 240 StGB (Nötigung) nicht der Fall.
Das Bestimmtheitsgebot geht auf die Französische Revolution zurück, die auch in Deutschland tiefe Spuren hinterließ. Es ist inzwischen wesentliches Kennzeichen eines jeden Rechtsstaates. Zum ersten Mal in Deutschland war das Bestimmtheitsgebot im Mai 1813, also 20 Jahre nach der zweiten Verfassung der Französischen Revolution und noch vor der Niederlage Napoleons in der Völkerschlacht bei Leipzig im Oktober 1813 in Bayern in eine Landesverfassung, 1848 auch in die Paulskirchenverfassung und 1851 in das preußische. Strafgesetzbuch aufgenommenj worden. .Wir verdanken es in sofern den Französischen wie der Deutschen Revolution. .so wurde es schließlich auch in das Strafgesetzbuch des Zweiten Deutschen Kaiserreichs von 1871 aufgenommen mit dem Wortlaut:

§. 2. Eine Handlung kann nur dann mit einer Strafe belegt werden, wenn diese Strafe gesetzlich bestimmt war, bevor die Handlung begangen wurde.“

Dabei blieb es bis zum Jahr 1935. Zwei Jahre nach der Machtübernahme Hitlers im Jahr 1933 jedoch wurde Paragraph 2 StGB von den Nationalsozialisten entsprechend ihren bereits während der Weimarer Republik entwickelten Plänen für ein neues Strafrecht total umgekrempelt. In einem Rechtsstaat soll der Staat die Rechte und Freiheiten der Bürger nicht nur respektieren, sondern schützen. In einem absolutistischen Staat wie dem Dritten Reich sollte der Bürger jedoch dem Staat bzw. dem „Volk“, unter dem nur die germanischen Herrenmenschen“ verstanden wurden, oder Gott dienen und sich ihnen gegebenenfalls opfern. Von nun an lautete § 2 StGB:

Bestraft wird, wer eine Tat begeht, die das Gesetz für strafbar erklärt oder die nach dem Grundgedanken eines Strafgesetzes und nach gesundem Volksempfinden Bestrafung verdient. Findet auf die Tat kein bestimmtes Strafgesetz unmittelbar Anwendung, so wird die Tat nach dem Gesetz bestraft, dessen Grundgedanke auf sie am besten zutrifft.“

Das bedeutete, das alte „Tatstrafrecht“, nach dem Taten und nicht hinter ihnen vermutete Gesinnungen geahndet wurden, wurde nicht einfach abgeschafft, sondern zunächst bestätigt: „Bestraft wird, wer eine Tat begeht, die das Gesetz für strafbar erklärt ...“ hieß es im ersten Halbsatz. Die Nationalsozialisten benötigten jedoch die autoritär getrimmte deutsche Justiz, deren hohen Ränge noch dem Kaiser gedient hatten, auf ihrer Seite. Sie sollten zunächst wie gewohnt weiter nach dem Tatstrafrecht urteilen können. Dem alten wurde jedoch das neue Strafrecht, das „Täterstrafrecht, an das die Richter sich erst noch gewöhnen mussten, zur Seite gestellt.
Dessen zentrale Kategorie war die des gesunden Volksempfindens“. Das Urteil auf der Grundlage eines fiktiven gesunden Volksempfindens sollte an die Stelle des vom parlamentarischen Gesetzgeber vorher schriftlich bestimmten Gesetzes treten. Mit „gesundem Volksempfinden“ war der Nationalsozialismus gemeint, auch wenn das verschleiert wurde. Alle anderen Empfindungen waren ein Zeichen der „Entartung“, Degeneration oder Erkrankung. Freisler, Präsident des damaligen „Volksgerichtshofs“ erklärte, was letztlich mit gesundem Volksempfinden“ gemeint war:

"Das Rechtswollen des Volkes äußert sich autoritativ in den Kundgebungen des Willensträgers des Volkes, des Führers" . Und: "Die autoritativen Kundgebungen des Führers einschließlich des Parteiprogramms der NSDAP" stehen "rang- und gradmäßig noch über den grundlegenden gesetzlichen Bestimmungen" [20 Abs. 39] (zit. nach Prof. Gerhard Wolf).

Damit war an die Stelle des Bestimmtheitsgebotes, das ersatzlos gestrichen wurde, ein Unbestimmtheitsgebot getreten. Und das kam Richtern entgegen, vor allem den obersten Richtern am Reichsgericht wie Emil Niethammer (s. o.) , denn dadurch wuchsen Freiheit und Macht der Richter. Sie waren nicht mehr an die Rechte der Bürger und die Gesetze des Staates gebunden, sondern allenfalls an den erklärten Willen des „Führers“ als neuen „Messias“. Und als es den nicht mehr gab, waren die Richter dran.
Dass der Grundgesetzgeber das Bestimmtheitsgebot mit Artikel 103 GG zum unmittelbar geltenden und einklagbaren Grundrecht der Bürger gemacht hat, hatte seinen Grund in der Tatsache, dass die Nationalsozialisten im Jahr 1935 dieses Prinzip im Strafgesetzbuch in sein Gegenteil verkehrt hatten. So etwas sollte für die Zukunft ausgeschlossen sein.

Umformulierung von § 240 StGB im Sinne des NS-Unbestimmtheitsgebots

Die Nationalsozialisten beließen es jedoch nicht bei der „friedlichen Koexistenz“ der beiden Rechtssysteme. Nach und nach formulierten sie einzelne Strafrechtsparagraphen entsprechend dem Gesinnungsstrafrecht um. Zu diesen Gesetzen gehörte auch der Nötigungsparagraph 240 StGB. Seit der Reichsgründung im Jahr 1871 hatte er schlicht und bestimmt gelautet:

Wer einen Anderen widerrechtlich durch Gewalt oder durch Bedrohung mit einem Verbrechen
oder Vergehen zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung nöthigt, wird ... bestraft.“

Strafbar waren also nicht alle Nötigungen, sondern allenfalls Nötigungen mit Gewalt oder durch Bedrohung mit einem Verbrechen oder Vergehen. Im Fall der Bedrohung war die Rechtswidrigkeit gesetzlich (Verbrechen oder Vergehen), also vor der Tat bestimmt, im Fall von Gewalt jedoch nicht, weil Gewalt ein völlig unbestimmter Begriff ist. Das liegt nicht nur daran, dass er auch so viel wie Herrschaft oder Übermacht bedeuten kann, wie z. B. in Staatsgewalt oder Naturgewalt. Das liegt vor allem daran, dass der Wortsinn des Begriffs von Menschen ausgeübter Gewalt aus der Sicht des Bürgers Gewalttätigkeit bedeutet. Der Germanist und Linguist Dietrich Busse stellte im Jahr 1991 fest:

Die vorläufige Durchsicht von etwa 500 Belegen aus zwei Jahrgängen dieses Textkorpus(aus Zeitungen, literarischen Werken u.ä. Texten) ergibt folgendes Bild: Gewalt wird … in diesen Belegen nahezu ausschließlich im Sinne von 'roher, körperlicher', häufig sogar 'brutaler Gewalt' verwendet. Kollokationen bzw. Kotexte des Wortes sind z.B. Gewalt und Tod, Gewalt und Aggression … Gewalt und Roheit, … rücksichtslose Gewalt [18 S. 21)].“

Auf Grund dieser Missverständlichkeit ist der Begriff „Gewalt“ unter dem Aspekt der Bestimmtheit ohne Zusätze für die Gesetzgebung unbrauchbar. In § 240 StGB sprang deswegen in der Fassung von 1871 (wie in § 253 StGB für „Erpressung“) der Zusatz der „Widerrechtlichkeit“ ein. Das heißt, auch Gewalt galt ausdrücklich erst dann als strafbar, wenn ihre Anwendung auch gegen bestehendes Recht verstieß.
In anderen Strafrechtsparagraphen wurde der Begriff der Gewalt durch konkretisierende Zusätze, linguistisch als „Kollokationen“ oder Kotexte“ [18] bezeichnet, näher bestimmt wie „tätlich angreift“, „mit einer Waffe“, „mit Gewalttätigkeiten“, „nötigt zu sexuellen Handlungen“ (z. B. in den §§ 113, 125, 177, 244), die alle auf Gewalttätigkeiten hinausliefen.
In seiner zweiten, der nationalsozialistischen Fassung von 1943 lautete § 240 jedoch plötzlich:

(1) Wer einen anderen rechtswidrig mit Gewalt oder durch Drohung mit einem empfindlichen
Übel zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung nötigt, wird wegen Nötigung ... bestraft.“
(2) Rechtswidrig ist die Tat, wenn die Anwendung der Gewalt oder die Zufügung des angedrohten Übels zu dem angestrebten Zweck dem gesunden Volksempfinden widerspricht.“

An die Stelle gesetzlich bestimmter „Straftatbestände“ waren damit „Empfindungen“ getreten. Rechtswidrig“ hieß nunmehr „widerspricht dem gesunden Volksempfinden“ und „Verbrechen oder Vergehen“ hießen nun „empfindliches Übel“. Damit war das Unbestimmtheitsgebot von § 2 für Nötigungen ohne wenn und aber umgesetzt worden. Die entscheidende Veränderung war zweifellos, dass der den völlig unbestimmten Begriff der Gewalt bis dahin noch – wenn auch entsprechend heutigen Anforderungen nur notdürftig - eingrenzende Straftatbestand „widerrechtlich“ verschwunden und durch die ideologisierende Volksempfindensformel mit neuem Inhalt gefüllt worden war.

Der Bundesgerichtshof in den Fußstapfen der Nationalsozialisten
(1)
Dieser gesamte Vorgang wurde vom Bundesgerichtshof als Nachfolger des Reichsgerichts dann schlicht geleugnet und damit tabuisiert. Bereits in seinem ersten Urteil zu Absatz 2 des Nötigungsparagraphen im Jahr 1951, das heißt zum Begriff des gesunden Volksempfindens, behauptete der 1. Strafsenat des BGH:

Absatz 2 ist seinem wirklichen Gehalt nach dahin zu verstehen, dass der Richter bei der Abgrenzung des strafwürdigen Unrechts von nicht strafwürdigem Verhalten nach dem Verhältnis des Mittels zum Zweck auf das Rechtsempfinden des Volkes zu achten hat. Das ist ein alter Grundsatz rechtsstaatlicher Strafrechtspflege des Besatzungsrechts entgegen. Sie verbieten nur, dass der Richter nach angeblichem gesunden Volksempfinden, d.h. willkürlich, strafe [11 Abs. 6] („Entnazifizierungsurteil“).“

Das Unbestimmtheitsgebot der Nationalsozialisten war jedoch unübersehbar ein „Freifahrschein“ für nationalsozialistische Willkür. Der BGH stellte also die Tatsachen schlicht auf den Kopf. Das vom BGH errichtete Tabu entfaltete auch hier seine Wirkung.
(2)
Deswegen konnte der BGH ein Jahr später im Jahr 1952, nunmehr in Gestalt seines „ Großen Senats für Strafsachen“ und in Übereinstimmung mit dem Generalbundesanwalt „zur Fortbildung des Rechts“ in seinem „Rechtswidrigkeits-Urteil“ weiter Spuren der Erinnerung z. B. an die eigentliche ursprüngliche Bedeutung der Rechtswidrigkeitsformel tilgen:

... das Wort 'rechtswidrig' in § 240 Abs 1 ... fügt der Handlung, die als Nötigung eines anderen mit Gewalt oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung gekennzeichnet wird, kein weiteres ihr Unrecht erst begründendes Merkmal hinzu. ...

Natürlich nicht, nicht mehr! Denn genau zu dem Zweck war die der Bestimmtheit dienende Rechtswidrigkeitsformel ja durch die unbestimmte Volksempfindungsformel ersetzt worden. Es war nun die Volksempfindensformel, die der Tathandlung ein „weiteres ihr Unrecht erst begründendes Merkmal hinzu fügte“, und diese Formel hatte die Funktion eines beliebig einsetzbaren Jokers. Für die, die das noch nicht begriffen hatten, ließ der BGH dann die Katze auch ganz offiziell aus dem Sack:

Hier fällt deshalb dem Richter die Aufgabe zu, an Stelle des Gesetzgebers durch unmittelbare Wertung zu entscheiden, ob die tatbestandsmäßige Nötigung im Einzelfalle rechtswidrig ist oder nicht. Auf diese besondere Aufgabe durch Einfügung des Wortes "rechtswidrig" hinzuweisen, ist sinnvoll [12 Abs. 7] (BGH Widerrechtlichkeitsurteil).“

Aus der ursprünglichen Begrenzung strafbarer Gewalt oder Drohung war damit ein bloßes Umleitungs- oder Haustürschild des BGH geworden in dem Sinn: In diesem ehrwürdigen Hause wird auch Recht geschaffen und nicht nur gesprochen. Also stört uns bitte nicht. - Und keiner störte.
Im Jahr 1953 wurde der Bundestag vielmehr dazu veranlasst, im Zuge einer Strafrechtsreform den Begriff des Widerspruchs zum gesunden Volksempfinden durch den noch unbestimmteren und zu Willkür einladenden Begriff der Verwerflichkeit zu ersetzen. Seitdem lautet § 240 StGB:

(1) „Wer einen Menschen rechtswidrig mit Gewalt oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung nötigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
(2) Rechtswidrig ist die Tat, wenn die Anwendung der Gewalt oder die Androhung des Übels zu dem angestrebten Zweck als verwerflich anzusehen ist.
(3) Der Versuch ist strafbar.“
(3)
Das „Laepple-Urteil“ - Kriminalisierung von Sitzblockaden nach § 240 StGB

Im Laepple-Urteil vom 08.08.1969 setzte sich der BGH auf Antrag des Generalbundesanwalts in einem dritten Schritt zum Nötigungsparagraphen zum ersten Mal und „rechtsfortbildend“ mit Sitzblockaden auseinander. Die Leitsätze 5 und 7 lauteten folgendermaßen:

5. Mit Gewalt nötigt, wer psychischen Zwang ausübt, indem er auf den Gleiskörper einer Schienenbahn tritt und dadurch den Wagenführer zum Anhalten veranlaßt.
und
7. Dem Grundgesetz läßt sich nicht die Befugnis entnehmen, die Wirkung von Demonstrationen durch Gewaltakte zu erhöhen.

Gewalt bestand also laut Bundesgerichtshof schon in der Anwendung psychischen Zwangs. Dabei konnte er sich durchaus auf entsprechende Urteile seines hochverehrten Vorgängers, des Reichsgerichts berufen. (Trotzdem hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zu Sitzblockaden im Jahr 1995 dieses Verdikt des Laepple-Urteils als nach Art. 103 unzulässige „Ausweitung“ des Gewaltbegriffs mit einer Mehrheit von 5 zu 3 Richterstimmen aufgehoben.)
Weiter wurde im Laepple-Urteil das Niedersitzen auf einer öffentlichen Straße als Gewaltakt, also als Gewalttätigkeit eingeordnet, und nicht als bloße Gewalt, wie es in § 240 StGB steht.
In der Begründung ging das Urteil jedoch noch weiter. Das Kölner Landgericht hatte die Sitzblockierer freigesprochen. Der bedrohliche Kommentar das BGH dazu lautete, eine solche Rechtsprechung laufe „auf die Legalisierung eines von militanten Minderheiten geübten Terrors hinaus[13 Abs. 16], ein auch Richter diskriminierendes Urteil ohne jedes Maß.
Das bereits zitierte Brokdorf-Urteil des Verfassungsgericht vom Jahr 1985 liest sich stellenweise wie das Gegenprogramm zum Laepple-Urteil, auch wenn das nicht zur Verhandlung stand.
Auch im Laepple-Urteil ging es maßgeblich um die Auslegung von § 240 StGB wie bereits in den Urteilen der Jahre 1951 und 1952 (s. o.). Und wieder kam der Bundesgerichtshof als Vorreiter der hinter ihm stehenden Exekutiven nicht ohne selbstherrliche Rechtssetzungen am Gesetzgeber vorbei aus. Bezüglich der Rechtswidrigkeits- bzw. Verwerflichkeitsformel hieß es diesmal:

Die Formel gilt allgemein für alle tatbestandsmäßigen Fälle; sie ist auch anzuwenden, wenn die Nötigung mit Gewalt begangen wird. Da aber die tatbestandliche Erweiterung, die zur jetzigen Fassung des § 240 StGB geführt hat, nur die Alternative der Drohung betraf und nur diese Erweiterung die Rechtswidrigkeitsklausel notwendig macht, ist die Gewaltanwendung praktisch indiziell für die Verwerflichkeit der Nötigung. Nur ausnahmsweise können besondere Umstände das Verwerflichkeitsurteil ausschließen [13 Abs. 13] (Laepple-Urteil)“

Für Sitzblockaden wurde also mit Hilfe von Falschaussagen die Verwerflichkeitsformel einfach aus dem Verkehr gezogen und so das Recht gebeugt. Zum einen betraf die „Erweiterung der Rechtswidrigkeitsklausel“ durch ihre Umbenennung in „Verwerflichkeitsklausel“ keineswegs nur den „Straftatbestand“ der Drohung, sondern selbstverständlich auch den der Gewalt. Anderes lässt schon der Wortlaut des Paragraphen gar nicht zu.
Zum anderen war noch nie „Gewaltanwendung praktisch indiziell für die Verwerflichkeit der Nötigung“ gewesen. Das hatte, wie gesagt, der im Jahr 1943 durch Umtaufung zum Verschwinden gebrachte, bis dahin einschränkende Zusatz der Rechtswidrigkeitsformel verhindert.

Nur steckte in der Verwerflichkeitsformel immer noch ein Rest von Einschränkung der Strafbarkeit, und das konnte den Regierungen und den Richtern in der Anwendung auf Sitzblockaden nicht gefallen, hatte doch auch das Landgericht Köln gerade erst wieder einmal gezeigt, dass viele Richter Sitzblockaden gegen Fehlentwicklungen, z. B. Rüstungsprojekte vielleicht als sinnlos, aber keineswegs als „verwerflich“ befanden. Der BGH hatte also eine in seinen Augen „falsche“ Anwendung der Ermächtigungsformel zu befürchten. Deswegen musste nun für Sitzblockaden auch noch die Verwerflichkeitsformel zum Verschwinden gebracht werden, und das geschah mit Hilfe der Indizialitätsformel, Gewalt bedeute Verwerflichkeit.
Als die Kritik daran dann im Jahr 1986 mit einer Rechtsbeschwerde auch das Verfassungsgericht erreichte, nahm der BGH vorher die Indizialitätsformel vorsorglich und pro forma zurück. In Ausnahmefällen könnten Sitzblockaden auch einmal nicht verwerflich sein:

Die Vielfalt ihrer Formen und die Unterschiede in der Intensität ihrer Wirkungen sprechen gegen eine pauschale Gewichtung. Insbesondere in Fällen, in denen der Täter mit 'nur geringem körperlichen Kraftaufwand einen psychisch determinierten Prozeß in Lauf setzt' … seelische Hemmungen des Opfers auslöst, die "sich auswirken wie körperlicher Zwang"..., können andere in die Abwägung eingehende Faktoren dem Verwerflichkeitsurteil entgegenstehen. Infolgedessen ist es ausgeschlossen, in dem Sachverhaltsmoment der beabsichtigten Verkehrsbehinderung eine stets hinreichende Bedingung für dieses Urteil zu sehen [14 Abs. 13]

(4)
Das „Fernziele-Urteil“ des BGH (1988)

Das mit dem Generalbundesanwalt abgestimmte, vom Verfassungsgericht jedoch im Jahr 1995 gekippte Fernziele-Urteil des BGH war in mehrerlei Hinsicht bemerkenswert.
Es war erforderlich geworden, als unter dem Einfluss des Mutlangen-Urteils mit vier Verfassungsrichtern gegen das Laepple-Urteil auch eine Mehrheit von vier gegen drei Oberlandesgerichten entschieden hatte, Sitzblockaden seien in der Regel nicht verwerflich, wenn es sich um

vom Täter im Interesse der Allgemeinheit für wichtig erachtete Ziele ..., um Protestaktionen zu die Allgemeinheit existentiell berührenden Fragen ..., um von billigenswerten Motiven und einem Gefühl der Verantwortung für die Allgemeinheit getragene und deshalb positiv zu bewertende Fernziele ..- oder um ein uneigennütziges, an sich gemeinwohlorientiertes Verhalten ... handelt [15 Abs. 11] (BGH Fernziele-Urteil ).“

Wenn man Nötigungen schon nicht, wie üblich, anhand von Tatbeständen als kriminell beurteilen konnte, sondern nur, wenn Ziele oder Zwecke der Nötigung auch verwerflich waren, dann, so meinten sie, mussten die Fernziele bei der Entscheidung über die Strafwürdigkeit berücksichtigt werden und nicht nur beim Strafmaß. Und das ist nach dem Wortlaut des Paragraphen 240 StGB auch nicht anders zu verstehen.
Sitzblockaden wurden jedoch in aller Regel von Idealisten veranstaltet, die nicht aus privatem Interesse demonstrierten, sondern sozial nützliche Ziele verfolgten. Die Berücksichtigung der Ziele bei der Entscheidung über die Strafwürdigkeit hätte also zur Folge gehabt, dass Sitzblockaden in der Regel nicht mehr als strafbar hätten behandelt werden können.
Letzteres war jedoch „rechtspolitisches“, also machtpolitisches Ziel, und der Zweck heiligte die Mittel Deswegen führte der BGH – durchaus geschickt - in seinem Urteil als Gegenargument an:

Die Beurteilung, ob die Täter sich in billigenswerter Weise für die Lösung einer die Öffentlichkeit wesentlich interessierenden Frage eingesetzt haben oder ob eine militante Minderheit zu Unrecht den Mangel an Argumenten für einen Irrweg durch Anwendung verwerflichen Zwanges auszugleichen versucht hat, hinge damit letztlich doch von der nicht kalkulierbaren politischen Einstellung des zuständigen Richters zu der im Einzelfall erhobenen Forderung ab [15 Abs. 23].“

Und das stimmte sogar. Abgesehen von wenigen im Versammlungsgesetz genannten Ausnahmen hat der Bürger das Recht auf freie Versammlungen völlig unabhängig von Thema und Ziel der öffentlichen Versammlung. Die Argumentation der Kriminalisierungskritiker wäre auf einen Bonus für „richtige“ oder „sozial verträgliche“ Themen und Ziele hinausgelaufen. Das hätte aber bedeutet, dass „sozial unerträgliche“ Ziele hätten mit einem Malus versehen werden müssen oder zumindest können, und das heißt praktisch mit einem Versammlungsverbot bei „falschen“ Zielen. Das aber hätte gegen die Autonomie der Demonstranten verstoßen. Und dann würde ein Freispruch oder ein Schuldspruch tatsächlich letztlich „von der nicht kalkulierbaren politischen Einstellung des zuständigen Richters“ abhängen.
Dass damals die Mehrheit der Oberlandesgerichte wie zuvor schon die Hälfte der Verfassungsrichter im Mutlangen-Urteil derart in die Irre gingen und das Versammlungsrecht verkannten, ist wohl nicht ohne die Verlockung durch das nationalsozialistische Kuckucksei der Verwerflichkeitsformel in § 240 StGB zu erklären.

Nur war die Argumentation des BGH nicht ganz so rechtsstaatlich, wie es bei oberflächlicher Betrachtung scheint. Denn wie hatte der Große Senat für Strafsachen im Rechtswidrigkeitsurteil im Jahr 1952 doch verkündet:

Hier fällt deshalb dem Richter die Aufgabe zu, an Stelle des Gesetzgebers durch unmittelbare Wertung zu entscheiden, ob die tatbestandsmäßige Nötigung im Einzelfalle rechtswidrig ist oder nicht [12 Abs. 7].“ (BGH Widerrechtlichkeitsurteil).“

Der ursprüngliche Nötigungsparagraph war noch ohne diese Selbstermächtigungsformel ausgekommen. Aber so wie zuerst die Nationalsozialisten und dann der BGH den Paragraphen zurecht gestutzt hatten, entschied ohnehin vor allem der BGH, welche Nötigung straffrei und welche strafwürdig ist. Und wie das Urteil in Sachen Sitzblockaden auszusehen hat, gab der BGH im Fernziele-Urteil auch gleich noch deutlich zu erkennen, nämlich dass mit Sitzblockaden eine militante Minderheit zu Unrecht den Mangel an Argumenten für einen Irrweg durch Anwendung verwerflichen Zwanges auszugleichen versucht“. Dieses Vorurteil erfüllt die gleiche Funktion wie die angebliche Verwerflichkeit von Sitzblockaden wegen angeblich indiziell rechtswidriger Gewaltanwendung.
Es ging nicht um „das Recht“, nicht um angeblich schwerwiegend betroffene Rechte Dritter. Die Rechte Dritter werden oft lediglich vorgeschoben und instrumentalisiert. Es geht um die Macht. Verfechter des Absolutismus sehen sich durch Sitzblockaden als Demonstrationen des Zweifels an der heiligen Autorität des Staates und seinem Recht, „autoritative“, nicht weiter zu begründende Entscheidungen oder auch Minderwerturteile zu sprechen, provoziert. Das hatte der BGHbereits im Laepple-Urteil zum Ausdruck gebracht, als er grundsätzlich wurde gegenüber dem Anspruch der Studenten auf Anhörung durch den Gemeinderat zu den geplanten Fahrpreiserhöhungen:

Eine Anhörung … wird mitunter aber auch im öffentlichen Interesse um des Ansehens der von der Mehrheitsentscheidung des Volkes getragenen Organe willen zu meiden sein“ [13 Abs. 14]. (Laepple-Urteil)

Dass die Anhänger der Bewegung „Zivilen Ungehorsams“ Strafen für ihren „Ungehorsam“, auch rechtswidrige, willig in Kauf nahmen und damit ihre Anerkennung der geltenden Regeln zu erkennen gaben, wurde geflissentlich ignoriert und der Öffentlichkeit gegenüber nach Möglichkeit unterschlagen. Damit wurde aber auch das Recht auf Widerstand ignoriert, auf den „kleinen Widerstand“, wie der Journalist und Publizist Heribert Prantl symbolische Gehorsamsverweigerungen nennt.
Schließlich argumentierte der BGH im Sinne des für § 240 StGB abgeschafften Tatstrafrechts:

Aus dieser Funktion der Verwerflichkeitsklausel des § 240 Abs. 2 StGB ergibt sich, daß der darin genannte "angestrebte Zweck" nichts anderes sein kann als das in Absatz 1 genannte - das Ziel der Zwangsausübung bildende - Handeln, Dulden oder Unterlassen. Würde der 'angestrebte Zweck' in Absatz 2 auch Ziele umfassen, die in Absatz 1 nicht genannt sind (bis hin zu "Fernzielen"), so würde das dem Aufbau des Tatbestands zuwiderlaufen und seinen Rahmen sprengen. [15 Abs. 15] (Fernziele-Urteil).“

Der „Aufbau des Tatbestands“ würde nicht erst durch die Berücksichtigung der Fernziele gesprengt. Das wurde er bereits durch die Einführung der Verwerflichkeitsformel im zweiten Absatz an Stelle der Rechtswidrigkeitsformel im ersten Absatz im Jahr 1943, entsprechend der Forderung des NS-Strafrechtslehrers Georg Dahm:

"Begriff und Wort des Tatbestandes sollten aus der Strafrechtsdogmatik verschwinden. Die Lehre vom Tatbestand ist nicht nur unfruchtbar, sondern schädlich (zit. nach [20 Abs. 86])“.

Gewonnene Schlacht in einem verlorenen Krieg - das Großengstingen-Urteil

Im Jahr 1995 kam es zu einem Schlagabtausch zwischen Verfassungsgericht und Bundesgerichtshof. Mit einer überraschenden und mysteriösen Mehrheit von fünf zu drei Richtern, die durch eine Neubesetzung im Richterkollegium herbeigeführt worden sein soll, entschied der 1. Senat des Verfassungsgerichts, der unzulässig „erweiterte“, weil vergeistigte bzw. psychologisierte Begriff körperlich gemeinter Gewalt in § 240 StGB im Laepple-Urteil verstoße gegen das Bestimmtheitsgebot nach Art. 103 GG. Dabei beließen es die fünf Richter jedoch nicht. Erstaunlicherweise wurde – ohne Begründung - auch das Fernziele-Urteil des BGH für „gegenstandslos“ erklärt. Die Entscheidungsformel lautete:

Der Beschluß des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 9. Mai 1989 … , das Urteil des Landgerichts Tübingen vom 19. Oktober 1988 … und das Urteil des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 23. Juni 1988 ... verletzen Artikel 103 Absatz 2 des Grundgesetzes. Sie werden aufgehoben. Die Sache wird an das Oberlandesgericht zurückverwiesen [7].“ (Großengstingen-Urteil BVerfGE)

Und der Leitsatz des Urteils lautete:

Die erweiternde Auslegung des Gewaltbegriffs in § 240 Abs. 1 StGB im Zusammenhang mit Sitzdemonstrationen verstößt gegen Art. 103 Abs. 2 GG [7].“ (Großengstingen-Urteil)

Mit „Erweiterung“ war die vermeintliche Vergeistigungdes Gewaltbegriffs in § 240 StGB durch die Rechtsprechung des Laepple-Urteils gemeint, zu dem es dort hieß:

5. Mit Gewalt nötigt, wer psychischen Zwang ausübt, indem er auf den Gleiskörper einer Schienenbahn tritt und dadurch den Wagenführer zum Anhalten veranlaßt [7]

Es ist zu vermuten, dass dieses „Machtwort“ des Verfassungsgerichts nach neun Jahren Patt in der Sache und plötzlicher Mehrheit der Kritiker des BGH nicht unerhebliche Empörung beim Bundesgerichtshof und ehemaligen Bundesrichtern innerhalb des Verfassungsgerichts ausgelöst hat. Anders kann ich mir jedenfalls nicht erklären, was dann geschah. Auch dieser 1. Senat des Verfassungsgericht hatte sich wie schon der des Mutlangen-Urteils im Jahr 1986 nicht dazu durchringen können, den Nötigungsparagraphen selbst, z. B. wegen der Unbestimmtheit des Begriffs Gewalt oder der Unbestimmtheit der Verwerflichkeitsformel, für ungültig zu erklären und damit den „Schwarzen Peter“ dorthin zu schieben, wohin er im Grunde genommen gehörte, nämlich zum Bundestag als Gesetzgeber. Stattdessen schob er ihn dem BGH zu. Dessen Rechtsprechung habe den Begriff der körperlich und nicht geistig gemeinten Gewalt unzulässig erweitert“ und damit „falsch ausgelegt. Die Begründung lautete:

Da die Ausübung von Zwang auf den Willen Dritter bereits im Begriff der Nötigung enthalten ist und die Benennung bestimmter Nötigungsmittel in § 240 Abs. 2 StGB die Funktion hat, innerhalb der Gesamtheit denkbarer Nötigungen die strafwürdigen einzugrenzen, kann die Gewalt nicht mit dem Zwang zusammenfallen, sondern muß über diesen hinausgehen. Deswegen verband sich mit dem Mittel der Gewalt im Unterschied zur Drohung von Anfang an die Vorstellung einer körperlichen Kraftentfaltung auf seiten des Täters. Zwangseinwirkungen, die nicht auf dem Einsatz körperlicher Kraft, sondern auf geistig- seelischem Einfluß beruhen, erfüllen unter Umständen die Tatbestandsalternative der Drohung, nicht jedoch die der Gewaltanwendung [7 Abs. 59].“

Dieser Argumentation lag jedoch eine falsche Annahme zu Grunde. Die fünf Richter gingen irrtümlich davon aus, körperliche Gewalt sei in „gefestigter Rechtsprechung“ „indiziell“ strafbar.
Schon im Mutlangen-Urteil hatten sie die entsprechenden Behauptungen des BGH im Laepple-Urteil so gedeutet, dass mit Gewalt

im Sinne der früheren Rechtsprechung des Reichsgerichts … ein Delikt begangen wird, das in aller Regel als rechtswidrig gelten kann [4 Abs. 13] .“.“

Sie waren also aus Unkenntnis der Irreführung durch den BGH im Laepple-Urteil aufgesessen und hatten sie inzwischen „internalisiert“. Sie übersahen dabei zweierlei. Zum einen ist dem Wortlaut von §240 StGB nicht zu entnehmen, dass Gewalt für Strafbarkeit mit körperlicher Kraftentfaltung des Nötigers verbunden sein muss. Zum anderen geht aus dem Wortlaut des Paragraphen eindeutig hervor, dass nicht körperliche Kraftentfaltung zur Gewalt hinzukommen muss, sondern Verwerflichkeit (wie ursprünglich einmal Rechtswidrigkeit). Ohne Verwerflichkeit keine Strafbarkeit. Ein tragischer Irrtum, den der BGH sich – gewissermaßen postwendend – zunutze gemacht hat. .

Das „Zweite-Reihe-Urteil“ – semantische Replik auf semantisches Urteil

Der Bundesgerichtshof griff die ungewollte Steilvorlage“ aus dem Hause des Verfassungsgerichts geschickt auf. Dazu genügte ihm das Wort „Körper“. Die fünf „antiautoritativen“ Verfassungsrichter hatten nach Körperlichkeit der angeblichen „Gewalt“ verlangt. Sie sollten haben, wonach sie verlangten, schließlich mussten sie als vermeintlich höheres Gericht das letzte Wort haben:

Der Senat ist der Auffassung, daß auch geringer körperlicher Aufwand - dazu gehören das Sich-Hinsetzen oder das Sich-auf-die Fahrbahn-Begeben - den Anforderungen an den Gewaltbegriff genügen kann, wenn seine Auswirkungen den Bereich des rein Psychischen verlassen und (auch) physisch wirkend sich als körperlicher Zwang darstellen (Abs. 10) Strafbare Nötigung durch Gewalt kann demnach vorliegen, wenn der Einfluß auf die Opfer bei nur geringem körperlichen Aufwand dergestalt physischer Art ist, daß die beabsichtigte Fortbewegung durch tatsächlich nicht überwindbare Hindernisse unterbunden wird [16 Abs. 12].“ (BGH Zweite-Reihe-Urteil)



Die Bundesrichter definierten einfach den Begriff „Körper“ bzw. körperlich neu. „Körperlich“ war die Gewalt nun, weil sie einen nicht zu überwindenden Metallkörper als „Tatmittler“ auf der Fahrbahn hinterließ.
Der BGH beantwortete also die Semantik der fünf Verfassungsrichter mit eigener Semantik, und das Verfassungsgericht schluckte seine Niederlage. Sechs Jahre später erfolgte der offizielle „Abgesang“ des Verfassungsgerichts in Form des Wackersdorf-Urteils (s. u.). Sitzblockaden werden wie eh und je kriminalisiert.
Dass Sitzblockaden „strafbar sind“, entnimmt der Bürger unter diesen Umständen in keinem Fall dem Wortlaut des Gesetzes. Er entnimmt es vielmehr der Tatsache, dass Sitzblockaden bestraft werden, aus welchen Gründen, mit welchem Recht oder Unrecht, mit welchem Gewalt- oder Körperbegriff auch immer . Er unterwirft sich ganz einfach „der „normativen Kraft des Faktischen“, er resigniert und er zweifelt am freiheitlichen Rechtsstaat. Auch dieser Schaden gehört in die Waagschale der Verhältnismäßigkeit. Mit einer solchen Rechtsprechung schadet sich der Staat selbst und seinen Bürgern und muss sich insofern vor allem erst einmal vor sich selbst schützen.

Der Ordinarius für Strafrecht,Strafprozessrecht und Rechtsinformatik an der Europa-Universität in Frankfurt/Oder Gerhard Wolf mahnte ein Jahr später – leider vergeblich:

Die Kabarettreife dieser Nummer, auf deren Fortsetzung man gespannt sein darf, darf nicht den Blick für die rechtsstaatliche Unhaltbarkeit der Situation und ihre historischen Gründe verstellen [20 Abs. 75]

Die Fortsetzung der „kabarettreifen Nummer“: das Wackersdorf-Urteil

Sechs Jahre später hatte das Verfassungsgericht erneut über Blockaden als Nötigungen zu entscheiden, diesmal allerdings nicht über Sitzblockaden, sondern über zwei andersartige Verkehrsblockaden. Im „Wackersdorf-Urteil“ vom 24. 10. 2001 ging es um zwei verschiedene Vorgänge. Im einen Fall hatten sich mehrere Personen vor der atomaren Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf in Bayern aneinander und an die Torpfosten gekettet und so mit einer menschlichen Kette „Menschenkette“ den Durchgangsverkehr behindert.
Im anderen Fall hatten ca. 600 Sinti und Roma, laut Urteil „nicht Deutsche im Sinne des Grundgesetzes [8 Abs. 17]“, mehr als 24 Stunden lang die Autobahn Richtung Basel blockiert, weil sie den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen in Genf wegen ihrer Lage in Deutschland aufsuchen wollten, von den Schweizern jedoch nicht ins Land gelassen wurden. Dazu hieß es im Urteil abschließend:

Das Amtsgericht hat zur Begründung der Verwerflichkeit des Handelns des Beschwerdeführers nachvollziehbar insbesondere auf die über 24 Stunden hinausgehende Dauer der Blockade abgestellt und im Rahmen der Strafzumessung in verfassungsrechtlich unbedenklicher Weise auch strafmildernd berücksichtigt, dass Anlass für die Aktion die Sorge um die Abschiebung und damit möglicherweise verknüpfte Gefahren für Leib und Leben war. [8 Abs. 69].“

Mögliche „Gefahren für Leib und Leben“ wurden nur „strafmildernd berücksichtigt“. Aber hatte nicht der Bundesgerichtshof im Fernziele-Urteil genau so entschieden: „Die Fernziele von Straßenblockierern sind nicht bei der Prüfung der Rechtswidrigkeit der Nötigung, sondern ausschließlich bei der Strafzumessung zu berücksichtigen.“? Und hatte nicht der 1. Senat dieses Urteil als rechtswidrig kassiert? Noch deutlicher konnte der 1. Senat des Verfassungsgerichts sich selbst kaum widersprechen, und das, ohne sich zu dieser „Revision“ auch zu bekennen. Gibt es ein höheres grundrechtlich und strafrechtlich geschütztes „Rechtsgut“ als „Leib und Leben“? Wie kann Selbstschutz da rechtswidrig und verwerflich sein?
Obwohl im 1. Leitsatz das Urteil zur Autobahnblockade mit dem Spruch des Zweite-Reihe-Urteils des BGH begründet wurde, vermied es das Verfassungsgericht vielmehr ausdrücklich, auf das Urteil des BGH einzugehen:

Dass infolge der Blockade weitere Kraftfahrzeuge Dritter stehen blieben, ist für die Beurteilung des Verhaltens des Beschwerdeführers ohne Belang. Der Sachverhalt gibt daher keinen Anlass, auf die so genannte Zweite-Reihe-Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (...) einzugehen [8 Abs. 33].“ (Wackersdorf-Urteil )

Keineswegs überzeugender urteilte das Gericht im zweiten zu behandelnden Fall der Menschenkette. Es beschrieb den Vorgang so:

Die Beschwerdeführerinnen und acht weitere Mitglieder der Gruppe blockierten ab etwa 6.30 Uhr die Zufahrt zu dem Gelände in der Weise, dass sie sich jeweils eine Kette um die Hüfte schlangen, die wiederum mittels einer Kette mit der Kette des jeweiligen Nachbarn verbunden war. Die am Ende der so gebildeten Gesamtkette stehenden Personen ketteten sich mit Sicherheitsschnappschlössern unmittelbar an die Torpfosten des Haupttores an. Jede dieser zehn Personen hatte unter den übrigen Mitgliedern der Gruppe einen "Betreuer", der auch für etwaige Notfälle im Besitz eines Schlüssels für die entsprechenden Schlösser war. [8 Abs. 2]
Sie gingen davon aus, dass die vor Ort anwesende Polizei nach höchstens 15 bis 30 Minuten mit Bolzenschneidern die Kette durchtrennen und die Zufahrt wieder frei machen werde [8 Abs. 3].“
Vor allem auf diese Aktion im Jahr 1990, also vor 11 Jahren! bezog sich auch der 1. Leitsatz“ des Urteils:

Art. 103 Abs. 2 GG ist nicht verletzt, wenn die Strafgerichte das Tatbestandsmerkmal der Gewalt in § 240 Abs. 1 StGB auf Blockadeaktionen anwenden, bei denen die Teilnehmer über die durch ihre körperliche Anwesenheit verursachte psychische Einwirkung hinaus eine physische Barriere errichten [8].“ (Wackersdorf-Urteil)

So hatte jedoch auch der Tenor des Zweite-Reihe-Urteils des BGH gelautet, auf das einzugehen es „keinen Anlass“ gab.
Aufschlussreich an diesem Urteil ist bereits seine Vorgeschichte auf dem Instanzenweg. Selbst die Strafgerichte waren von der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs offensichtlich nicht überzeugt., ein Beispiel für die keineswegs gefestigte“ Rechtsprechung. Es heißt doch „in dubio pro reo“! Aber gegen den großen Vater? Das Amtsgericht hatte in einem Fall lediglich eine „Verwarnung“ , ausgesprochen und eine Geldstrafe nur angedroht. Aber für die oberen Gerichte war es „noch schlimmer“ gekommen wie schon seitens des Kölner Landgerichts beim Fall Laepple:

Das Amtsgericht verwarnte die Beschwerdeführerin zu 1 wegen des Vergehens einer gemeinschaftlich begangenen Nötigung und behielt die Verurteilung zu einer Geldstrafe von 20 Tagessätzen zu je 35 DM vor (Abs. 5). … Das Landgericht wies die Berufung der Beschwerdeführerin mit der Maßgabe zurück, dass die Höhe der Tagessätze der vorbehaltenen Geldstrafe auf je 20 DM reduziert wurde (Abs. 8). ... Die Beschwerdeführerin zu 2 wurde vom Amtsgericht unter Vorbehalt einer Geldstrafe von 20 Tagessätzen zu je 20 DM mit entsprechendem Schuldvorwurf und im Wesentlichen gleicher Begründung wie die Beschwerdeführerin zu 1 verwarnt (Abs.10). ... Nachdem das Landgericht Amberg die Beschwerdeführerin freigesprochen hatte und nach Aufhebung des Berufungsurteils durch das Bayerische Oberste Landesgericht erneut zu einem Freispruch gelangt war, wurde auch dieses Urteil aufgehoben und die Sache an das Landgericht Nürnberg-Fürth zurückverwiesen [8 Abs. 11].“(Wackersdorf-Urteil).“

Nachdem das Landgericht Amberg eine Beschuldigte dann zweimal freigesprochen hatte, hatte die Sache, um den richterlichen Widerstand gegen die Rechtsauffassung der Staatsanwaltschaften, des Bayerischen Oberlandesgerichts und des BGH zu brechen, schließlich an ein anderes, weniger „ungehorsames“ Landgericht verwiesen werden müssen.

das Verfassungsgericht dann immerhin ein:

Die Blockade einer Zufahrt beeinträchtigt jedenfalls die Fortbewegungsfreiheit der an der Straßenbenutzung gehinderten Kraftfahrzeugführer, eventuell auch deren Freiheit beruflicher Betätigung. Mit der Ausübung des Versammlungsrechts sind häufig unvermeidbar gewisse nötigende Wirkungen in Gestalt von Behinderungen Dritter verbunden (...). Derartige Behinderungen Dritter und Zwangswirkungen sind durch Art. 8 GG gerechtfertigt, soweit sie als sozial-adäquate Nebenfolgen mit rechtmäßigen Demonstrationen verbunden sind (...). (Abs. 51)... Ob die Gerichte bei Anwendung eines engen Gewaltbegriffs der Erfüllung des Tatbestandsmerkmals "Gewalt" eine die Rechtswidrigkeit indizierende Wirkung beimessen können (...), bedarf vorliegend … keiner Entscheidung. Es ist verfassungsrechtlich jedenfalls nicht zu beanstanden, dass die Gerichte bei der hier in Rede stehenden Ankettungsaktion der Beschwerdeführerinnen eine solche Indizwirkung verneint haben [8 Abs. 54].“(Wackersdorf)“

Damit kehrte der 1. Senat des Jahres 2001 unter der Hand zum Laepple-Urteil (dass "Gewalt eine die Rechtswidrigkeit indizierende Wirkung“ haben könnte) zurück. Dann aber räumte er entsprechend der Rechtsbeschwerde der verurteilten „Kettenglieder“ schwere Fehler der Tatsacheninstanz ein:

Es hat … den Schutzbereich des Art. 8 GG verkannt, als es diese Grundrechtsnorm im Zuge der strafrechtlichen Verwerflichkeitsprüfung unbeachtet gelassen … die Sozialwidrigkeit der beabsichtigten Verkehrsbehinderung ohne Rückgriff auf Art. 8 GG bejaht … das Recht der Grundrechtsträger zur eigenbestimmten Entscheidung über die Ausgestaltung der Versammlung verkannt … den Sachbezug zwischen dem Protestgegenstand und dem Ort der Aktion sowie den in ihrer Fortbewegung beeinträchtigten Personen nicht berücksichtigt. Auch hat das Gericht, soweit Umleitungsmöglichkeiten bestanden, diesen im Rahmen der Abwägung kein Gewicht beigemessen, sondern allein darauf abgestellt, dass die Kraftfahrzeugführer die Vorstellung gehabt hätten, ihnen werde durch das Hindernis die Weiterfahrt verwehrt [8 Abs. 64].“

um dann aber trotzdem zu dem verblüffenden Schluss zu gelangen:

Auch wenn die Strafgerichte demnach in den Verfahren betreffend die Beschwerdeführerinnen zu 1 und 2 die Bedeutung des Art. 8 GG im Rahmen der Verwerflichkeitsprüfung verkannt haben, bedarf es hier dennoch nicht der Aufhebung der angegriffenen Entscheidungen und der Zurückverweisung der Sachen an die Strafgerichtsbarkeit. Im Ergebnis halten die Entscheidungen nämlich verfassungsrechtlichen Anforderungen stand, da sie nicht auf dem Fehler beruhen. Auch bei hinreichender Berücksichtigung des Grundrechts der Versammlungsfreiheit erscheint es ausgeschlossen, dass die Gerichte den Beschwerdeführerinnen günstigere Entscheidungen getroffen hätten. [8 Abs. 66].“(Wackersdorf-Urteil)

Ein „mildes“ Urteil, obwohl ein „autoritatives unehrenhaftes Unwerturteil“ und damit ein „empfindliches Übel“ (§ 240 StGB) in Aussicht stand! Schon um auf den unteren Rängen der Justiz Klarheit zu schaffen, hätten die Urteil zurückgewiesen werden müssen. Im Schlusssatz des Minderheitsvotums zweier Verfassungsrichter zum Wackersdorf-Urteil heißt es bitter:

Stellt sich ein tatbestandsmäßiges Verhalten unter Berücksichtigung von Art. 8 GG nicht als verwerflich dar, ist auch die mildeste Strafe übermäßig [8 Abs. 96].“

Warum gab es das Vermeidungsverhalten des Verfassungsgerichts? Schon im Mutlangen-Urteil hatte es geheißen:

Verfassungsrechtlich zweifelhaft kann nach alledem nicht schon die normative Regelung durch den Gesetzgeber, sondern allenfalls deren Auslegung durch die Gerichte sein, welche 28 Professoren des Strafrechts veranlaßt hat, in Eingaben an das Bundesverfassungsgericht grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedenken gegen § 240 StGB anzumelden [4 Abs. 72].“

Und im „Bastian-Urteil vom Jahr 1987 unter dem Vorsitz von Roman Herzog, dem späteren Bundespräsidenten, hatte es geheißen:

Soweit die gegensätzliche Beurteilung von Sitzdemonstrationen durch das Bundesverfassungsgericht und durch die Strafgerichte Unklarheiten und Unsicherheiten ausgelöst hat, beruhen diese letztlich auf der vielfach kritisierten Fassung des § 240 StGB und können nur vom Gesetzgeber beseitigt werden [5 Abs. 17].“ (BVerfGE Bastian-Urteil)

Warum ist man diesen Weg nicht gegangen?

Gefestigter Mythos von gefestigter Rechtsprechung

Die Minderheit von drei Verfassungsrichtern beim Großengstingen-Urteil hatte zur Verteidigung des Laepple-Urteils u. a. ins Feld geführt, die Anwendung des Nötigungsparagraphen entspreche „einer gefestigten Rechtsprechung, die sich in einer über hundertjährigen Entwicklung herausgebildet hatte“ (s. o.). Damit haben die für diese Behauptung verantwortlichen Richter den BGH vollends diskreditiert.
Erstens lagen zwischen 1871 und 1986 nicht nur 115 eigenschaftslose Nullachtfünfzehnjahre, sondern die Ersetzung des Kaiserreichs nach revolutionären Aufständen durch die Weimarer Republik, ein faschistischer „Rechtsstaat“ mit seiner „Umstellung“ des gesamten Strafrechts im Jahr 1935 vom Bestimmtheitsgebot auf ein Unbestimmtheitsgebot sowie insbesondere des Paragraphen 240 StGB im Jahr 1943 vom rechtsstaatlichen Tatstrafrecht auf das nationalsozialistische Täter- und Gesinnungsstrafrecht.
Zweitens gab es seit dem Jahr 1949 das Grundgesetz, mit dem nicht nur das von den Nationalsozialisten im Jahr 1935 abgeschaffte Bestimmtheitsgebot mit Nachdruck in Form des Artikels 103 GG wieder eingeführt worden war, - nun sogar als Grundrecht -, sondern auch ein Versammlungsrecht geschaffen wurde, nach dem nur „unfriedliche“ - also auf dem Gefahrenniveau einer bewaffneten Auseinandersetzung - gewalttätige Versammlungen „indiziell“ rechtswidrig sind.
Drittens sprachen die jahrelange Spaltung der Strafjustiz und eine ebensolche Spaltung des Verfassungsgerichts, wie sie dem Fernziele-Urteil des BGH im Jahr 1988 n (s. o.) oder dem Wackersdorf-Urteil des Verfassungsgerichts vorausgingen, auch nicht gerade für eine „gefestigte Rechtsprechung“ und die „Voraussehbarkeit der Auslegungdes Nötigungsparagraphen [7 Abs. 79]. Bei Anwendung des Prinzips in dubio pro reo hätte die Frage eigentlich lauten müssen: Findet da tatsächlich eine „Auflehnung gegen die Rechtsordnung“ statt, oder fand diese nicht vielmehr seitens des Bundesgerichtshofs statt, der das Grundgesetz in Sachen Sitzblockaden mit dem Laqepple-Urteil von Anfang an missachtete?
Eindeutig vom Verfassungsgericht widersprochen wurde bis heute nur der „Erweiterung“ des Gewaltbegriffs. Die „Vergeistigung“ des Gewaltbegriffs war in der „gefestigten“ deutschen Rechtsprechung jedoch durchaus üblich. Und sie war auch nicht das Schlimmste, was an dem furchtbaren Laepple-Urteil grundgesetzwidrig war. Man nehme nur die Behauptung, Sitzblockaden seien Akte des Terrors [Laepple-Urteil Abs. 16]. Terror bedeutet Verbreitung von Furcht und Schrecken z. B. Durch Aufknüpfen von Adeligen an den Laternen oder durch Bombenattentate. und der sollte ausgerechnet durch Sitzblockaden ausgeübt werden? Sitzblockierer wurden geradezu zu Monstern erklärt. Insofern war das Laepple-Urteil ein geradezu „monströses“ Urteil, das sich gegen die Freiheitlichkeit der Grundordnung richtete und sie keineswegs verteidigte.
Viertens bietet Bommarius ein Beispiel für einen Repräsentanten jener insofern „gefestigten“ weil unbelehrbaren Rechtsprechung und dafür, wem wir auf der anderen Seite neben einigen aufgeklärten Deutschen unsere heutigen freiheitlichen Länderverfassungen und das Grundgesetz zu verdanken haben:

Um einen künftigen Zusammenschluss der Länder Württemberg-Baden (amerikanische Zone) und Württemberg-Hohenzollern (französische Zone) nach dem Ende der Besatzungszeit nicht zu gefährden, setzte sich Carlo Schmid [SPD] bei der französischen Militärregierung Ende 1946 dafür ein, die bereits beschlossene Verfassung Württemberg-Badens für Württemberg-Hohenzollern zu übernehmen. Dagegen wehrte sich erfolgreich der württembergisch-hohenzollernsche CDU-Politiker Lorenz Bock – wenig später Staatspräsident des Landes - , der um jeden Preis die Übernahme einer von einem Sozialdemokraten geschriebenen Verfassung verhindern wollte. Daraufhin war Bock selbst mit der Ausarbeitung einer Verfassung beauftragt worden, bei der ihn der damals 77 Jahre alte Präsident des Oberlandesgerichts Tübingen, Emil Niethammer, unterstützte. Bis zu seiner Pensionierung 1937 war Professor Niethammer Reichsgerichtsrat in Leipzig gewesen, nach 1945 mit einem der ersten nach dem Krieg publizierten juristischen Aufsätze zur 'Fortdauernden Wirksamkeit der Entscheidungen des Reichsgerichts' hervorgetreten. Darin hatte er die Rechtsprechung des Reichsgerichts in der NS-Zeit gelobt, es habe alle Entscheidungen 'auf Menschlichkeit, Wahrheit und Gerechtigkeit ausgerichtet'. Um jedem Zweifel vorzubeugen, hatte Niethammer hinzugesetzt: 'Das gilt grundsätzlich für alle Entscheidungen – also auch für die Rassenschande-Urteile des Reichsgerichts, also auch für seine Rechtsprechung zum 'bürgerlichen Tod' der Juden.'
Die französische Militärregierung hat dem Bock-Niethammer-Entwurf im März 1947 die Zustimmung verweigert – er sei autoritär und entschieden undemokratisch. Erst ein neuer, zwischen den Christdemokraten und Carlo Schmid ausgehandelter Kompromiss wurde genehmigt [17 S. 123].“

Fünftens wenden sich z. B. in England in einem solchen Fall die Richter an den Gesetzgeber. Aber selbst das Verfassungsgericht hat genau das vermieden. Verfechter einer spätabsolutistischen Rechtspolitik innerhalb des Verfassungsgerichts, ich vermute: vorherige Bundesrichter, taten so und sie konnten so tun, als ginge sie die wahre Geschichte des Nötigungsparagraphen nichts an. Warum das so war, bedarf meiner Ansicht nach dringend der historischen Aufarbeitung, denn ganz offensichtlich hat hier die rechtsstaatliche Kontrolle der unabhängigen Dritten Gewalt versagt.
Sechstens richtete sich der Nötigungsparagraph 240 StGB in all seinen drei historischen Fassungen gegen mehr oder weniger private unbefriedete Streitereien und Auseinandersetzungen zwischen Bürgern, bei denen Handgreiflichkeiten oder z. B. Todesdrohungen zwecks Nötigung im Spiel sind. Das dürfte auch ein Grund dafür gewesen sein, dass die Nationalsozialisten ihn, ohne schlafende Hunde zu wecken, problemlos aus dem Rechtsbereich des geschriebenen Rechts in den der „ungeschriebenen Regeln“, also aus dem Bereich des Schutzes der „öffentlichen Sicherheit“ in den des Schutzes der „öffentlichen Ordnung“ und damit in die Alleinentscheidung der Richter verlagern konnten. Und sogar unter politischen Gesichtspunkten hat sich das möglicherweise nicht einmal schwerwiegend ausgewirkt, solange es um lauter Einzelfälle mehr oder weniger privater Auseinandersetzung ging.
Mit der Anwendung von § 240 auf Sitzblockaden mit dem Zweck der Durchsetzung einer Staatsdoktrin ohne entsprechendes Gesetz hat sich das jedoch grundlegend geändert. Diese Versammlungsmethode war in Deutschland völlig neu. Sie kam aus der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung um Martin Luther King und anderer. Sitzblockaden waren in aller Regel gewaltfrei. Gewaltlosigkeit gehörte sogar gerade zu der Botschaft, die vermittelt werden sollte. In dieser neuen Situation hatten die Gerichte zwei Optionen, wenn sie grundgesetzkonform vorgehen wollten. Entweder sie traten an den Gesetzgeber heran mit der Aufforderung, eine Gesetzeslücke zu schließen, oder sie wählten den Freispruch. Warum haben sie weder das eine noch das andere getan? Der Germanist und Linguist an der Düsseldorfer Heinrich Heine-Universität Dietrich Busse versuchte im Jahr 1991 eine Erklärung:

Juristische Versuche, den Terminus Gewalt aufzuweichen und auf als gewaltfrei geplante Kasernenblockaden auszudehnen, dienen eindeutig dem ordnungspolitischen Ziel, unbequeme Formen des bürgerlichen Ungehorsams als verwerflich hinzustellen. Dabei muß der Gerechtigkeit halber allerdings hinzugefügt werden, daß in dem Moment, wo eine Verurteilung der Angeklagten erwünscht war, den Richtern rechtssystematisch kein anderer Weg blieb als die extensive Auslegung des Nötigungsparagraphen und des in ihm enthaltenen Ausdruck mit Gewalt. Dies war unumgänglich, da in der Bundesrepublik (anders als in den USA) das Gesetz über Ordnungswidrigkeiten keine Ahndung solcher Delikte des zivilen Ungehorsams unterhalb der Schwelle des Strafrechts (etwa mit einem einfachen Bußgeldbescheid wie beim Falschparken) zuläßt. Der Zwang wird damit von unserer derzeitigen Rechtsordnung vorgegeben [19 S. 17].“
Im ersten Punkt hatte Busse sicherlich recht, im zweiten jedoch nicht. Die Richter konnten Regelverstöße mit wenigstens nicht auch ehrenrührigen Bußgeldern ahnden, wie sie das Versammlungsgesetz oder die Straßenverkehrsordnung vorsehen. Stattdessen haben sie selbstherrlich den Nötigungsparagraphen zweckentfremdet.



Für das Recht auf Ventil

Wie wenig auch heute noch z. B die sächsischen Verwaltungen und Verwaltungsgerichte das Versammlungsrecht verstanden und verinnerlicht haben, zeigen aktuell deren Entscheidungen zu den Versammlungen in Heidenau. Sie begründeten die Versammlungsverbote mit der Behauptung eines polizeilichen Notstands, als solches im Grunde bereits eine politische Bankrotterklärung, ohne ihn aber nachweisen zu können, was nach Rechtsprechung des Verfassungsgerichts eine notwendige Voraussetzung gewesen wäre. Das heißt, die örtliche Verwaltung entschied und die örtlichen Gerichte bis hinauf zum Oberverwaltungsgericht urteilten rechtswidrig. Hätte da nicht ein wacher Jurastudent beim Bundesverfassungsgericht eine „einstweilige Anordnung“ gegen die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts beantragt und erreicht, hätten die von den Versammlungsverboten betroffenen Bürger vielleicht wie üblich nach fünf oder 10 Jahren die Rechtswidrigkeit der Verbote bescheinigt bekommen, aber eine einmalige Chance zu demonstrieren, wie im Unterschied zu den Neonazis die Mehrheit der Bürger im Moment denkt und fühlt, wäre vereitelt worden. Absolutismus nicht auf der Straße, sondern im Hintergrund hätte – nicht zum ersten Mal – vollendete Tatsachen geschaffen. Das hat auch das Verfassungsgericht so gesehen, wenn es in seiner Pressemitteilung vom 29. 08.2015 zu den Vorgängen in und um Heidenau erklärte:



Ergeht eine einstweilige Anordnung nicht und bleibt das durch die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts fortbestehende Versammlungsverbot in Kraft, hätte eine Verfassungsbeschwerde aber später Erfolg, so wäre das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit in einem zeitlich wie örtlich eng durch aktuelle Ereignisse gebundenen Kontext zu Unrecht außer Kraft gesetzt.“ (BVerfG Pressemitteilung vom 29. 08.2015)

Ein anderer Aspekt der Vorgänge um Heidenau ist jedoch noch grundsätzlicher und vielleicht auch wichtiger als der bereits dargestellte, weil er in der aktuellen Aufregung vollkommen unterzugehen droht: Das Versammlungsrecht steht nicht nur den „Rechtmeinenden“ zu, sondern z. B. auch Neonazis, und das ist gut so. Solange Bürger nur ihre Lage und ihre Meinungen kund tun, tragen sie zur geistigen Auseinandersetzung bei, und wir Bürger können ihre geistige Welt kennenlernen, um ihnen wirkungsvoll antworten zu können. Das ist besser als wenn sie pöbeln, Flüchtlingsunterkünfte niederbrennen oder gar das Leben anderer bedrohen. Auch sie haben ein Recht auf Ventil, solange das, was heraus kommt, nicht Gewalt oder Aufruf zu Gewalt ist. Die Gegner der Neonazis sollten nicht versäumen, zwischen Neonazis und von ihnen verführten Bürgern klar zu unterscheiden und das Versammlungsrecht auch für von den Neonazis irregeführte Bürger zu verteidigen.

FAZIT

Die gegenwärtige Präsidentin des Bundesgerichtshofs Bettina Limperg hat sich auf Wunsch des Zentralrats der Sinti und Roma von einem Urteil des Bundesgerichtshofs im Jahr 1956 distanziert. Sie schäme sich für ihre Kollegen, die in ihrem Urteil zur Verweigerung einer Entschädigung für das Erleiden einer „Umsiedlungsaktion“ der Nationalsozialisten im Jahr 1940 als Rechtfertigung von der „Landplage“ der Sinti und Roma gesprochen hatten. Das ehrt Frau Limperg. Ohne die durch ihre Ausgrenzung erfahrenen Probleme von „Sitzblockierern“ in der Bundesrepublik mit dem Leiden von Sinti und Roma vergleichen zu wollen, wünsche ich mir jedoch auch eine Distanzierung vom Laepple-Urteil durch den BGH, das Verfassungsgericht und durch den Bundestag. Auch Sitzblockierer sind eine Minderheit, die mit einem „empfindlichen Übel“ durch Staatsgewalt bedroht und verfolgt wird. Auch hier sollte der Freiheitsgedanke das Sicherheitsbedürfnis kontrollieren und nicht umgekehrt.


QUELLENVERZEICHNIS

Ich habe wichtige Zitate in Kursivschrift und zusätzlich häufig in Rahmen gesetzt. Sie waren also im Original nicht kursiv gesetzt. Hervorhebungen einzelner Wörter oder Sätze in Fettdruck stammen ebenfalls von mir. R.V. Ziffern in eckigen Klammern weisen auf dies Quellenverzeichnis hin, zusätzliche Seitenangaben auf Absätze der Urteile oder Texte

Urteile BverfG
  1. 1958 BVerfGE 7, 198 Lüth-Urteil am 15. Januar 1958 Meinungsfreiheit
  2. 1969 BVerfGE 27, 18 –16.07.1969 Ordnungswidrigkeiten
  3. 1985 BVerfGE 69, 315 – Brokdorf I 14-05.1985 Art 8 Versammlungsrecht
  4. 1986 BVerfGE 73, 206 - Sitzblockaden I 11.11.1986 Mutlangen / GroßengstingenMutlangen
  5. 1987 BVerfGE 76, 211 – 14.07.1987 General Bastian-Urteil
  6. 1992 BVerfGE 87, 399 – 01.12.1992 Versammlungsauflösung Engstingen
  7. 1995 BVerfGE 92, 1 - 10.01.1995 Sitzblockaden II Großengstingen
  8. 2001 BVerfGE 104, 92 - Sitzblockaden III 24.10.2001 Wackersdorf
  9. 2007 Zitierung: BVerfG, 1 BvR 2793/04 vom 19.12.2007 Heiligendamm /Auflösung, http://www.bverfg.de/entscheidungen/rk20071219_1bvr279304.html
  10. 2011 BverfG BvR 388/05 07.03.2011 Sitzblock Frankfurt-Airbase

Urteile BGH
  1. 1951 BGH 1 StR 77/50 04.04.1951 Entnazifizierung d. ges. Volksempfindens.
  2. 1952 BGHSt 2, 194 - Bewußtsein der Rechtswidrigkeit. März 1952
  3. 1969 BGHSt 23, 46 08.08.1969 Laepple-Urteil
  4. 1986 BGH, 2 StR 565/85 24.04.1986 -Nötigung durch Sitzblock
  5. 1988 BGH, - 1 StR 5/88 05.05.1988 Fernziele-Urteil
  6. 1995 BGH BGHSt 41, 182 - 20. Juli 1995 Zweite-Reihe-Urteil

Weiteres Quellenmaterial
  1. 2009 (Bommarius, Christian: Das Grundgesetz Eine Biographie Rowohlt Berlin 2009)
  2. 1991 Prof Busse zu DUDEN-Textkorpus (© 1991, Dietrich Busse: Juristische Fachsprache und öffentlicher Sprachgebrauch, S. 180 a.a.O. S. 179/PDF S. 21).
  3. 1991 Prof. Busse, Rechtspolitik ((Aus: Frank Liedtke / Martin Wengeler / Karin Böke (Hrsg.): Begriffe besetzen. Strategien des Sprachgebrauchs in der Politik. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1991, S. 160-185. Dietrich Busse: Juristische Fachsprache und öffentlicher Sprachgebrauch Richterliche Bedeutungsdefinitionen und ihr Einfluß auf die Semantik politischer Begriffe 11. Rechtssprache - Eine Fachsprache? S. 17)
  4. 1996 , Prof. Gerhard Wolf: Befreiung des Strafrechts vom nationalsozialistischen Denken? (Fn. 1) Humboldt-forum -recht 1996. Beitrag 9 Seite 1, http://www.humboldt-forum-recht.de/druckansicht/druckansicht.php?artikelid=79
  5. VGH Mannheim: (Senatsbeschluss vom 12.12.2013 – 1 S 22532/13 ….) (VGH 05.12.2014).