Mittwoch, 9. Dezember 2015

Sitzblockaden: Auflehnung gegen die Rechtsordnung – von unten oder Auflehnung gegen die Rechtsordnung von oben?


Sitzblockaden: Auflehnung gegen die Rechtsordnung – von unten oder Auflehnung gegen die Rechtsordnung von oben?
V.i.S.d.P. reinhart.vowinckel@web.de http://vowinckel.blogspot.de 06.12.2015

Politisch motivierte Verkehrsblockaden werden in der Bundesrepublik, anders als z. B. in den USA, nach § 240 StGB als strafbare Nötigung geahndet. Das bedeutet: Nach angeblich „allgemeiner Anschauung“ ist eine Kriminalstrafe, z. B. für Nötigung
ein ehrenrühriges, autoritatives Unwerturteil über eine Verhaltensweise des Täters, der Vorwurf einer Auflehnung gegen die Rechtsordnung ...(BVerfGE 16.07.1969, Abs. 46).“
Eine demonstrative Verkehrsblockade demonstriert für unsere Rechtsprechung also in aller Regel kriminelle Auflehnung gegen unsere Rechtsordnung, eine absurde Deutung. Tatsächlich und auch rechtlich ist es genau umgekehrt. Nicht die demonstrative Verkehrsblockade signalisiert Auflehnung gegen unsere Rechtsordnung, sondern ihre Kriminalisierung durch die deutsche Justiz. Vor der Auseinandersetzung mit der strafrechtlichen Behandlung von Sitzdemonstrationen noch einmal eine Zusammenfassung grundrechtlicher Aspekte in vier Thesen:

1. These: Das Grundrecht der Versammlungsfreiheit wird allein durch die Gebote der Meinungsbildung und der Friedlichkeit eingeschränkt. Häufigkeit, Dauer und Ort einer Versammlung unter freiem Himmel und im öffentlichen Raum unterliegen verfassungsrechtlich deshalb allein der Bestimmung durch die Versammelten. Das gilt z.B. auch für die Lokalisierung von Montagsdemonstrationen vor dem Stuttgarter Hauptbahnhof, und sei es „nur“ zur Verteidigung der Versammlungsfreiheit selbst.

2. These: Die sogenannten „Fernziele“ (vergl. BGHSt 1 StR 5/88), z.B. der Verhinderung eines Krieges oder des Umweltschutzes sind für die grundrechtliche Behandlung von Versammlungen ohne jede Bedeutung. Das Versammlungsrecht ist politisch so neutral, wie ein Mensch nicht sein kann und auch nicht sein sollte.

3. These: Gegenüber dem „besonderen“ Grundrecht der Versammlungsfreiheit und dem hinter ihm stehenden generellen gesellschaftlichen Nutzen von politischen Versammlungen, gleich welcher Art, sind Verkehrsbelästigungen grundsätzlichsozialadaequat“ und nie verwerflich“. Und das nicht nur nach richterlichem Gutdünken. Daran ändert auch das so genannte „Recht auf Fortbewegungsfreiheit(s. Roma-Urteil) nichts. Die Rechtsprechung hat davon auszugehen, dass in aller Regel gerade erst durch eine gewisse Dauer der Verkehrsbehinderung Aufmerksamkeit der Medien und damit der Öffentlichkeit erreicht wird (vergl.1 BvR 388/05, 07.03.2011 Abs. 34). Eine Verrechnung mit dem bloßen Zwang, Umwege zu machen, ist unverhältnismäßig. Sie schwächt die Autorität des Versammlungsrechts und verletzt die Würde von Demonstranten als besonders verantwortungsbewussten Staatsbürgern, die einer ehrenamtlichen Tätigkeit nachgehen.

4. These: Der durch Verkehrsbehinderungen angerichtete Schaden für die „öffentliche Ordnung“ ist gering verglichen mit dem Schaden, der durch rechtswidrige Verbote und Bestrafungen angerichtet wird. Zum einen führt die Erniedrigung durch ein ehrenrühriges Urteil gerade gegen Staatsbürger, die ihrer Verantwortung für das Gemeinwohl mit Zivilcourage nachkommen, bei einem Teil der Demonstrierenden zu Frustration und Depression oder gar zu Staatsverdrossenheit, also zum Gegenteil von dem, wozu das Versammlungsrecht gedacht ist.
Zum anderen gerät durch eine solche Rechtspolitik auch das Versammlungsrecht selbst in Misskredit. Die Bürger werden zu einer eher verächtlichen als respektvollen Haltung gegenüber dem Versammlungsrecht und damit auch gegenüber dem Grundgesetz verführt und erzogen. Die erzieherische Funktion der Rechtsprechung sollte aber vielmehr gerade darin bestehen, dass der Bürger lernt: Grundgesetzgemäßes politisches Engagement, das Aufmerksamkeit verlangt, ist mehr als Belästigung. Es ist vielmehr eine in ihrem Wert weithin verkannte Form aufopferungsvoller ehrenamtlicher Betätigung.
Nun zur strafrechtlichen Behandlung von Sitzdemonstrationen. Da sieht es nicht viel anders aus.
Zum Versammlungsgesetz stellte das Verfassungsgericht einst fest:
Die bloße Gefährdung der öffentlichen Ordnung kann ein Versammlungsverbot … grundsätzlich nicht rechtfertigen ...(Verfassungsgericht im Jahr 2007 im Heiligendamm-Urteil Abs. 26).
Unter 'öffentlicher Ordnung' wird die Gesamtheit der ungeschriebenen Regeln verstanden, deren Befolgung nach den jeweils herrschenden sozialen und ethischen Anschauungen als unerläßliche Voraussetzung eines geordneten menschlichen Zusammenlebens innerhalb eines bestimmten Gebiets angesehen wird (Brokdorf-Urteil Abs.78).

Einfache Verstöße gegen Verkehrsregeln unterliegen jedoch der Straßenverkehrsordnung, also der „öffentlichen Ordnung“, und ziehen vielleicht ein Bußgeld nach sich, aber kein ehrenrühriges Strafurteil. Auch Nötigungen sind nur strafbar, wenn sie „verwerflich“ sind. Der „Straftatbestand“ der Verwerflichkeit gehört jedoch zum ungeschriebenen“, nicht vom Gesetzgeber entsprechend GG Art. 103 „bestimmten“ Recht. Also gehört auch die Verfolgung von Nötigungen zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung. Wenn aber die „bloße Gefährdung der öffentlichen Ordnung ein Versammlungsverbot … grundsätzlich nicht rechtfertigen“ kann, dann kann sie auch nicht zu einer Bestrafung führen.
Aber das ist alles graue Theorie, denn wir haben es mit einem politischen Dogma, einem geradezu religiösen Glaubenssatz (vergleiche Paulus an die Römer) zu tun, dem Dogma von der Unfehlbarkeit, in diesem Fall nicht der Kirche, sondern des Staates und --- seiner Richter und andererseits von der stets kriminellen Energie „militanter Minderheiten, denen die Argumente fehlen“ (vergl. Fernziele-Urteil des BGH). „Sitzblockaden“ sind demnach Demonstrationen „zivilen Ungehorsams“ gegenüber der Staatsmacht, eben „Auflehnungen gegen die Rechtsordnung“, Grundgesetz hin oder her, ganz „neutral“. Wir haben es also mit einem Relikt des historischen Absolutismus, des „Gottesgnadentums“ zu tun.

Deswegen sei an dieser Stelle an das einzige Gegengift gegen höchstrichterliche Selbstherrlichkeit erinnert, das „Bestimmtheitsgebot“ nach Art. 103 GG, ein weitgehend unbekanntes Grundrecht:
Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.“ (wortgleich in § 1 des heutigen Strafgesetzbuches.)
Bestimmt“ bedeutet zum einen, dass bei der Gesetzgebung der „Wortsinn aus der Sicht des Bürgers zu bestimmen“ ist (BvR 388/05 vom 07.03.2011 Abs. 21), zum anderen, dass allein der Gesetzgeber über den Schutz eines „Rechtsgutes“ durch Strafe zu befinden hat und Gerichte diese Entscheidung nicht korrigieren dürfen (vergl. Mutlangen-Urteil Abs. 66) . Der Bundesgerichtshof hat jedoch verschiedentlich sehr wohl „korrigiert“, und das nicht nur einfache Gesetze, sondern sogar das Grundgesetz, und das ausgerechnet in Sachen § 240 StGB. Der lautet auf Grund einer „Korrektur“ durch die Nationalsozialisten folgendermaßen:
1) „Wer einen Menschen rechtswidrig mit Gewalt oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung nötigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
(2) Rechtswidrig ist die Tat, wenn die Anwendung der Gewalt oder die Androhung des Übels zu dem angestrebten Zweck als verwerflich anzusehen ist.
Den zweiten Absatz hatte es bis zum Jahr 1943 gar nicht gegeben. Im Jahr 1952 sollte der BGH auf Nachfrage von Kollegen niederen Ranges erklären, wie „Verwerflichkeit“ die selbe Bedeutung haben könne wie „Rechtswidrigkeit“. Die Antwort lautete:
Hier fällt deshalb dem Richter die Aufgabe zu, an Stelle des Gesetzgebers durch unmittelbare Wertung zu entscheiden, ob die tatbestandsmäßige Nötigung im Einzelfalle rechtswidrig ist oder nicht ...(BGHSt 2, 194 18.03.1952 Abs. 7).“
Genau das ist jedoch nach Art. 103 sogar grundgesetzlich verboten. Aber so wurde es gemacht, bis heute. Der Richter entscheidet, was „Gewalt“ ist, und dass Gewalt Strafbarkeit bedeutet, obwohl der Paragraph ausdrücklich Strafbarkeit nur bei „verwerflicher“ Gewalt vorsieht und nicht bei jeder.

Sonntag, 29. November 2015

Das Versammlungsrecht steht über dem Gesetz


Das Versammlungsrecht steht über dem Gesetz
und auch dem Bundesverfassungsgericht!
v. i. S. d. P. reinhart.vowinckel@web.de http://vowinckel.blogspot.de 30.11.2015
Die 5. Kammer des Stuttgarter Verwaltungsgerichts hat entschieden: Das Vorgehen von Polizei, und Staatsanwaltschaft am 30.09.2010, dem „Schwarzen Donnerstag“, war der Auffassung der fünf Richterinnen und Richter nach rechtswidrig. Vor allem werfen sie der damaligen Regierung Mappus und der Polizei vor, das Grundrecht der Bürger auf freie Versammlung missachtet und geleugnet zu haben, indem sie und die Nachfolgerregierung der Versammlung den Versammlungscharakter absprachen. Das ist ein bundesweit beachteter Erfolg der Stuttgarter Bürgerbewegung, den wir hüten, bewahren und pflegen sollten wie einen Schatz.
Aber noch ist er nicht in trocknen Tüchern. Zwar ist es eher unwahrscheinlich, dass die Landesregierung noch in die zweite Instanz geht. Das brächte mit Sicherheit schlechte Presse, und die Landtagswahlen stehen vor der Tür. Schlechte Presse könnte da Stimmen kosten. Aber sicher ist das nicht.
Entscheidend wird sein, wie die schriftliche Urteilsbegründung aussieht und wie darin mit dem zentralen Gegenargument der Landesregierung und ihrer Anwälte umgegangen wird. Das ist der Verweis auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 24.10.2001. In jenem Urteil ging es um eine mehrtägige Verkehrsblockade von über 600 Roma auf der Autobahn an der Schweizer Grenze bei Basel im Jahr 1990, die weiträumige Umleitungen und Umwege zur Folge gehabt hatte. Die von ihrer Abschiebung aus Deutschland bedrohten Roma wollten damals mit einem Aufsehen erregenden Marsch auf Genf und einer Kundgebung vor dem Flüchtlingshochkommissariat der Vereinten Nationen gegen die Roma-Politik deutscher Behörden und die Verletzung der Europäischen Flüchtlingskonvention demonstrieren. Damals gab es noch nicht die heutige „Willkommenskultur“. Aus der geplanten Demonstration für die Sache der Roma wurde eine Demonstration bei Basel.
Parallelen zwischen „Schwarzem Donnerstag“ und Autobahnblockade sind wohl unbestreitbar. Auch der spontanen Versammlung der Roma auf der Autobahn war vom Verfassungsgericht vor allem der Versammlungscharakter abgesprochen worden. Es geht also um mehr als um den möglichen Verlust von ein paar Wählerstimmen. Das Urteil widerspricht, jedenfalls indirekt, auch der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts, und die ist in diesem konkreten Fall des Roma-Urteils allen Gemeindeverwaltungen der Republik lieb und teuer. Vereinfacht sie doch das Verbot, die Auflösung oder auch die Zerschlagung von hartnäckigen Versammlungen.
Aber davon haben sich die unabhängigen Stuttgarter Richter offensichtlich nicht beeindrucken lassen. Und sie haben recht. Bereits das Roma-Urteil des Verfassungsgerichts im Jahr 2001 war ein Akt der Willkür. Und wenn nun jemand fragt, wie kannst Du als juristischer Laie so etwas sagen, dann antworte ich: Richter sind auch nur Menschen mit ihren ganz persönlichen oder auch professionsgebundenen Wertvorstellungen. Der seiner selbst bewusste Bürger darf sogar höchsten Richtern widersprechen. Es gibt bis heute in der Bundesrepublik keine „gefestigte Rechtsprechung“ zu demonstrativen, also in ihrem Wesen symbolischen, zeichenhaften Verkehrsbehinderungen. Verwaltungen und Regierungen und der Bundesgerichtshof tragen als Monstranz vermeintlicher politischer Vernunft eine „Staatsraison“ vor sich her: Widerstand gegen die Staatsmacht, und sei er noch so frei von Gewalttätigkeit, ist in der Demokratie ein Verbrechen. Das Versammlungsrecht ist jedoch ein Widerstandsrecht und deswegen für „die Politik“ unbequem. Deswegen ist die Rechtsprechung zu Sitzdemonstrationen auch so widersprüchlich und offensichtlich auch für Juristen oft verwirrend.
Art. 8 GG stellt nach internationalem Recht und gefestigter Rechtsprechung auch des Bundesverfassungsgerichts für den Schutz des Rechts auf Versammlungen nur zwei Bedingungen:
1. Der Zweck einer Versammlung, gleichgültig ob spontan oder angemeldet, ob zu Fuß, per Pobacke oder per Wohnwagen, muss von den sich Versammelnden als ein Beitrag zur öffentlichen politischen Kommunikation gedacht sein. Was zählt, ist der kommunikative Charakter der Demonstration als Beitrag zur politischen Meinungs- und Willensbildung. Nur darin besteht der allgemeine gesellschaftliche Wert von Versammlungen, nicht in ihren konkreten Zielsetzungen.
2. Die Versammlung muss im Wesentlichen friedlich sein, das heißt unbewaffnet und ohne Gewalttätigkeiten gegen Menschen oder Sachen. Ausschreitungen einzelner Versammlungsteilnehmer heben, wie auch das Verwaltungsgericht schon festgestellt hat, das Versammlungsrecht nicht auf.
Schauen wir uns unter diesen zwei Aspekten an, was das Verfassungsgericht zur Roma-Demo festhielt:
Zitat 1:
Nach den Feststellungen des Amtsgerichts zielte die Blockadeaktion der Roma und Sinti darauf, nach Verweigerung der Einreise in die Schweiz dennoch unbedingt ein Gespräch mit dem Hohen Flüchtlingskommissar in Genf zu erreichen und dafür die Einreise zu erzwingen. Darauf waren auch die parallel zur Blockade geführten Verhandlungen über die Einreise und über die Möglichkeit zur Beendigung der Aktion gerichtet (Roma-Urteil BVerfGE ….. Abs. 41).“
Zitat 2:
Das Amtsgericht hat zur Begründung der Verwerflichkeit des Handelns des Beschwerdeführers nachvollziehbar insbesondere auf die über 24 Stunden hinausgehende Dauer der Blockade abgestellt und im Rahmen der Strafzumessung in verfassungsrechtlich unbedenklicher Weise auch strafmildernd berücksichtigt, dass Anlass für die Aktion die Sorge um die Abschiebung und damit möglicherweise verknüpfte Gefahren für Leib und Leben war. (Roma-Urteil BVerfGE ….Abs. 69).“
Zitat 3:
Demgegenüber diente … die Blockade des Grenzübergangs an der Autobahn nicht, jedenfalls nicht in erster Linie, der Kundgebung einer Meinung oder der Erregung öffentlicher Aufmerksamkeit für ein kommunikatives Anliegen .“

Dem Vorsitzenden des Roma-Nationalkongresses wurde nicht „Unfriedlichkeit“ vorgeworfen, sondern lediglich Nötigung nach § 240 StGB, die selbsthilfeähnliche Durchsetzung eigener Forderungenund die Erzwingung des eigenen Vorhabens“. (Mit der strafrechtlichen Behandlung von Sitzdemonstratioinen werde ich mich im nächsten, meinem vierten Flyer zum Urteil des Stuttgarter Verwaltungsgerichts noch auseinandersetzen, pünktlich zur 300. Montagsdemo.) Aber der Versammlungscharakter der Autobahnblockade wurde einfach geleugnet, für mich nicht nachvollziehbar. Wer es im Jahr 1990 sehen wollte, der sah auch, dass es bei der gesamten Aktion um einen verzweifelten Appell an das europäische und insbesondere deutsche menschliche und politische Gewissen ging. Das Amtsgericht hat selbst eingeräumt, dass es um „Gefahren für Leib und Leben“ ging. (Zahlreiche Roma, insbesondere ihre Kinder, waren auf der Flucht von Ort zu Ort bereits erkrankt.) Und nach dem in den 90er Jahren mehrere tausend Roma und Sinti eine Duldung erhalten hatten, war diese Tatsache im Jahr 2001 noch unübersehbarer. Die von der europäischen Öffentlichkeit sehr wohl wahrgenommene politische Versammlung auf der deutschen Autobahn war der spontane Ersatz für die verhinderte Versammlung vor dem Gebäude des Hochkommissars für das Flüchtlingswesen, und sie dürfte eine weitaus stärkere kommunikative Wirkung entfaltet haben, als die geplante Versammlung in Genf hätte entfalten können. Die Roma wollten und mussten die Einreise in die Schweiz nicht erzwingen. Ihr Ziel hatten sie bereits erreicht. So wie die Versammlung am 30.09.2010 im Schlossgarten eine weitaus größere kommunikative Wirkung entfaltet hat als jede Montagsdemo.
In der Pressemitteilung des VG zum Urteil vom 11.11.2015 wird jedoch nicht auf den alles entscheidenden kommunikativen Charakter der Versammlung abgehoben. Vielmehr heißt es dort, „bei der Verhinderung der Baumfällarbeiten und der Errichtung des Grundwassermanagements habe es sich lediglich um ein Nahziel zur Erreichung des Fernziels der Verhinderung des Umbaus des Bahnknotens Stuttgart gehandelt“.Die Unterscheidung zwischen Nah- und Fernziel ist jedoch nicht sinnvoll und hilfreich. Die Landesregierung könnte daraus den Schluss ziehen: Aha, also doch nur „Verhinderungsblockade“. Von dieser Begründung habe ich in der mündlichen Vorstellung des Urteils auch nichts vernommen. Mit ihr würde das Verwaltungsgericht der Argumentation der Gegenseite in die Arme laufen. Die „Fernziele“ sind für die rechtliche Behandlung von Versammlungen ohne jede Bedeutung. Sie sind allein Sache der Demonstranten. Und auch das „Nahziel“ einer Behinderung – nicht Verhinderung! - gehört zur „Sprache“ von Versammlungen.

Samstag, 21. November 2015

Die versuchte Zähmung des Wolfes


Die versuchte Zähmung des Wolfes
War die „Sitzblockade“ am Schwarzen Donnerstag eine erlaubte Versammlung?
2. Kommentar zur zweiten Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht am 11.11.2015 um 10 Uhr

v. i. S. d. P. reinhart.vowinckel@web.de http:// vowinckel.blogspot.de 09.11.2015

Am kommenden Mittwoch (11.11.2015, 10.00 Uhr) geht die Gerichtsverhandlung über den „Schwarzen“ oder „Roten Donnerstag“ vor fünf Jahren vor dem Stuttgarter Verwaltungsgericht in die zweite Runde. Endlich ist es einigen Mitstreitern gelungen, die damaligen Ereignisse vor ein Gericht zu bringen.
Am 30.09.2010 „veranstalteten“ Tausende von Stuttgartern vom Rentner bis zur Schülerin aus akutem Anlass zum Ausdruck ihres Protestes gegen ein ihrer Überzeugung nach asoziales Großprojekt eine spontane, Aufsehen erregende Sitzdemonstration.
In der Tradition der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs wird die Landesregierung versuchen, auch diese „Sitzblockade“ als Aktion eines rechtswidrigen und damit strafbaren, weil angeblich gewalttätigen bürgerlichen Ungehorsams zu kennzeichnen. So dürfte sie das blutige und von der weiteren Wahrnehmung des Versammlungsrechts durch die Stuttgarter Protestbewegung ostentativ und möglichst endgültig abschreckende Vorgehen des Stuttgarter Polizeipräsidiums rechtfertigen.

Im Mittelpunkt des Verfahrens wird und darf jedoch auf der anderen Seite nun nicht etwa die Brutalität des Polizeieinsatzes stehen. Der ist lediglich ein Symptom eines letzten Endes gegen das Versammlungsrecht und damit gegen das Grundgesetz gerichteten „Staatsaktes“. Für die Auflösung einer Versammlung bedarf es laut Verfassungsgericht nun einmal eines vorherigen „Verwaltungsaktes“ der zuständigen Ordnungsbehörde. Ein solcher Beschluss lag jedoch meines Wissens nicht vor. Die Vorschrift eines solchen mit der Anhörung beider Seiten verbundenen Verwaltungsaktes ist im Grunde eine Institution direkter Demokratie wie auch das gesamte Versammlungsrecht. Allenfalls der Nachweis einer akuten Gefährdung der Sicherheit des Staates (siehe „Rahmenbefehl“ des Innenministeriums) oder von Leben oder Gesundheit Dritter hätte das Vorgehen von Polizeipräsidium und Staatsanwaltschaft eventuell rechtfertigen können. Eine solche Gefährdung ging jedoch nur von Polizei und anwesender Staatsanwaltschaft aus. Und
Die bloße Gefährdung der öffentlichen Ordnung kann ein Versammlungsverbot … grundsätzlich nicht rechtfertigen ...“ (Verfassungsgericht im Jahr 2007 im Heiligendamm-Urteil Abs. 26).

Nun noch weitere Informationen zum Versammlungsrecht. Im ersten Absatz von Artikel 8 GG heißt es:
(1) Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln.
Zum Schutz des Rechts auf freie Versammlungen hat das Verfassungsgericht ergänzt:
Der Schutz ... umfasst vielfältige Formen gemeinsamen Verhaltens bis hin zu nicht verbalen Ausdrucksformen, darunter auch Sitzblockaden (Frankfurt – Air Base – Urteil Abs. 32).“
„Sitzblockaden“ wurden jedoch vom BGH im Laepple-Urteil als „Gewaltakte“ und „Terror“ militanter Minderheiten stigmatisiert. Demgegenüber erweiterte das Verfassungsgericht bereits im Wackersdorf-Urteil:
Mit der Ausübung des Versammlungsrechts sind häufig unvermeidbar gewisse nötigende Wirkungen in Gestalt von Behinderungen Dritter verbunden (...). Derartige Behinderungen Dritter und Zwangswirkungen sind durch Art. 8 GG gerechtfertigt, soweit sie als sozial-adäquate Nebenfolgen mit rechtmäßigen Demonstrationen verbunden sind (…) (Wackersdorf-Urteil des BVerfG vom 14.10.2001 Abs. 51).
Eine absolutistische Gegenposition zum Grundgesetz bezog jedoch im Jahr 1969 der Bundesgerichtshof:
Niemand ist berechtigt, tätlich in die Rechte anderer einzugreifen, insbesondere Gewalt zu üben, um auf diese Weise die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zu erregen und eigenen Interessen oder Auffassungen Geltung zu verschaffen (Laepple-Urteil BGH Abs. 16).
Mit ähnlicher grundgesetzwidriger Argumentation werden noch heute Sitzdemonstrationen strafrechtlich verfolgt. Demgegenüber stellte das Verfassungsgericht fest, dass die Verfolgung der Absicht, durch eine Versammlung Aufmerksamkeit zu erregen, gerade zum Kern des Versammlungsrechts gehört.
Hier nun einige weitere Informationen auch zum Recht auf spontane Versammlungen. Der zweite Absatz von Artikel 8 lautet:
(2) Für Versammlungen unter freiem Himmel kann dieses Recht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden.
In § 14 des die Versammlungsfreiheit einschränkenden Versammlungsgesetzes von 1953 heißt es dazu u.a.:
(1) Wer die Absicht hat, eine öffentliche Versammlung unter freiem Himmel oder einen Aufzug zu veranstalten, hat dies spätestens 48 Stunden vor der Bekanntgabe der zuständigen Behörde unter Angabe des Gegenstandes der Versammlung oder des Aufzuges anzumelden.
Gegen diese gesetzliche Bestimmung haben die Stuttgarter Demonstranten meines Wissens am 30.10.2010 tatsächlich verstoßen, und auf diesen Umstand vor allem dürfte die Landesregierung in ihrer Rechtfertigung des Versuchs, die Sitzdemonstration aufzulösen, auch abheben. Die meisten Demonstranten sind an jenem Morgen zu den Bäumen geeilt, nachdem per Mail, Handy und Hörensagen aufgerufen worden war, dort gemeinsam gegen die überraschend und rechtswidrig für den nächsten Tag geplante Fällung der Bäume zu protestieren; andere wie ein Stuttgarter Richter sind zufällig hinzu gestoßen. Das heißt jedoch noch lange nicht, dass sie nicht ohne Anmeldung demonstrieren durften. Dem Verstoß gegen das Versammlungsgesetz steht gegenüber, dass die Polizei eine Versammlung überhaupt nur dann auflösen darf, wenn dafür ein Beschluss der Ordnungsbehörde vorliegt, den sie vollstrecken darf, und der lag meines Wissens nicht vor.
Grundrechte stehen über einfachem Recht. Zum „einfachen“ Recht gehören auch das Versammlungsgesetz oder die Strafgesetze. Wenn wir sie verletzen, haben wir noch längst nicht den Schutz eines Grundrechts verloren. So heißt es z. B. Im ersten Urteil des BVerfG zum Versammlungsrecht u.a. :
Das Fehlen eines gesamtverantwortlichen Anmelders hat lediglich zur Folge, daß die Eingriffsschwelle der zuständigen Behörde bei Störungen - ähnlich wie bei einer Spontandemonstration - absinken kann, sofern die Behörde ihrerseits alles getan hat, um in Erfüllung ihrer Verfahrenspflichten - etwa durch ein Angebot zur fairen Kooperation - die Durchführung einer friedlich konzipierten Demonstration zu ermöglichen (Brokdorf-Urteil Abs. 89).“
Mit anderen Worten: Spontanität und Mangel an Organisation allein heben das Recht auf eine Versammlung noch nicht auf. Auch spontane, nicht entsprechend § 14 VersG angemeldete Versammlungen genießen prinzipiell den Schutz von Artikel 8 GG.
Die staatlichen Behörden sind gehalten, nach dem Vorbild friedlich verlaufender Großdemonstrationen versammlungsfreundlich zu verfahren und nicht ohne zureichenden Grund hinter bewährten Erfahrungen zurückzubleiben. Je mehr die Veranstalter ihrerseits zu einseitigen vertrauensbildenden Maßnahmen oder zu einer demonstrationsfreundlichen Kooperation bereit sind, desto höher rückt die Schwelle für behördliches Eingreifen wegen Gefährdung der öffentlichen Sicherheit (Brokdorf-Urteil BVerfG 3. Leitsatz).“

Und zum guten Schluss:
Die in § 15 VersG als Schranke im Sinne des Art. 8 Abs. 2 GG enthaltene Ermächtigung zur Gefahrenabwehr sieht für Eingriffe in die Versammlungsfreiheit die Form des Verwaltungsakts vor, dessen Erlass zudem im Ermessen der Versammlungsbehörde steht. … Die behördliche Entscheidung konkretisiert die Rechte und Pflichten der Versammlungsteilnehmer (Wackersdorf-Urteil Abs. 48).“

Donnerstag, 5. November 2015

Strafanzeige gegen Unbekannt wegen Misshandlung eines Asylbewerbers


Reinhart Vowinckel

An die
Staatsanwaltschaft Stuttgart poststelle@stastuttgart.justiz.bwl.de 05.11.2015

Strafanzeige gegen Unbekannt wegen Misshandlung eines Asylbewerbers

Sehr geehrte Damen und Herren,
die Stuttgarter Zeitung brachte am 27.10.2015 einen Verhandlungsbericht ihres Mitarbeiters Gerhard Hertler über eine Fellbacher Gerichtsverhandlung, die mich veranlasst, Anzeige gegen Unbekannt zu erstatten. (Gewalt gegen Hund führt vor Gericht in Waiblingen)
Demnach hatte sich in Waiblingen ein Mann aus Bhutan auf seinem Fahrrad fahrend von einem Hund angegriffen gefühlt und nach dem ihn verfolgenden Hund getreten. Darüber hatte sich eine von fünf Frauen (offensichtlich nicht die Hundehalterin) so erregt, dass es zu einem heftigen Streit vor allem zwischen der streitbaren Frau, und nicht etwa der Hundehalterin, und dem Radfahrer kam, in dessen Verlauf der Radfahrer auch Steine geworfen haben soll. Nach wem er sie geworfen haben soll, dem Hund oder den Frauen, war in der Verhandlung vor dem Amtsgericht anscheinend kein Thema. (Da die streitbare Frau wegen der Steine zu Pfefferspray gegriffen hat, kann die Entfernung zum Radfahrer eigentlich nicht so groß gewesen sein, dass ein Steinwurf Sinn macht.
(Wer gegen den Radfahrer Strafanzeige erstattete, ist mir nicht bekannt.) Die Frauen (ob als Klägerinnen oder als Zeuginnen?) machten vor Gericht geltend, sie hätten sich in Panik befunden. Von der offensichtlichen Panik des Radfahrers ist in dem Zeitungsbericht und war demnach wohl auch vor Gericht keine Rede. Auch von der Pflichtverletzung der Hundehalterin war nicht die Rede. Sie hat ihren Hund so zu führen, dass er andere Verkehrsteilnehmer nicht gefährdet.
Anlass für meine Strafanzeige ist jedoch nicht das hier geschilderte Geschehen, sondern das „Nachspiel“. Laut Zeitungsbericht hat die streitbare Frau ihren herbeigeholten Mann, einen „Türsteher“, dazu angestiftet, den Radfahrer zu verfolgen und zu misshandeln. Dieser habe dabei den Radfahrer erheblich verletzt (z. B. Riss eines Trommelfells). Der Türsteher hat damit eine schwerwiegende Straftat begangen, und seine Frau hat ihn zu ihr angestiftet.
Dass der Radfahrer ein lediglich geduldeter Asylbewerber ist, hindert diesen möglicherweise daran, mit Hilfe seines Anwalts selbst Strafanzeige zu erstatten. Es ist jedoch auch nicht auszuschließen, dass die Straftat einen ausländerfeindlichen oder möglicherweise sogar rechtsradikalen Hintergrund hat. Ich muss wohl nicht betonen, dass bei der gegenwärtigen politischen Entwicklung in der Bundesrepublik (siehe Pegida) in dieser Hinsicht unsere erhöhte Sensibilität erforderlich ist. Bleibt das Verbrechen des Türstehers ungesühnt, könnten nicht nur er und seine Frau und die beteiligten vier anderen Frauen, sondern auch andere Ausländerfeinde oder Rechtsradikale triumphieren und sich zu Nachahmungstaten ermutigt fühlen.
Deswegen gibt es ein erhöhtes öffentliches Interesse daran, solcher Zusammenrottung und Selbstjustiz von Anfang an entgegen zu treten.
Mir ist bekannt, dass normalerweise eigentlich der Betroffene selbst Anzeige erstatten müsste. Es ist jedoch naheliegend, dass er als nur „Geduldeter“, auf sich allein gestellt, sich vor weiteren Racheakten schützen möchte. Und es gibt einen aktuellen Parallel-Fall, in dem die Staatsanwaltschaft auch wie bei einem Offizialdelikt handelt. Der Pegida-Chef Bachmann hat den Bundesjustizminister Maas mit Nazi-Propagandaminister Göbbels verglichen und damit beleidigt. Der Bundesjustizminister will Bachmann jedoch nicht anzeigen, wohl um ihm keine politische „Bühne“ zu bieten. Auch Beleidigung ist kein „Offizialdelikt“. Bei gegebenem öffentlichen Interesse kann jedoch die Staatsanwaltschaft durchaus – wie im Fall Bachmann gegen Maas – w egen Gefährdung der öffentlichen Ordnung ein Strafverfahren bzw. wenigstens Ermittlungen einleiten. Ich bitte darum. Falls eine andere Staatsanwaltschaft zuständig ist, bitte ich um Weiterleitung.

Mittwoch, 4. November 2015

Was ist eine Versammlung nach Art. 8 GG?


Was ist eine Versammlung nach Art. 8 GG?

v. i. S. d. P. reinhart.vowinckel@web.de http:// vowinckel.blogspot.de 02.11.2015

Am vergangenen Mittwoch fand die erste von vier geplanten Sitzungen des Stuttgarter Verwaltungsgerichts zum blutigen Polizeieinsatz gegen die Großdemonstration zu S21 im Schlossgarten vor fünf Jahren statt. Weitere Verhandlungstage sollen der 11.11., der 18.11. sowie der 25.11.2015 (jeweils ab 10.00 Uhr) sein. Das VG hat dazu am 29.09., also pünktlich zum 5. Jahrestag der Ereignisse, eine Pressemitteilung herausgegeben, in der u. a. die Klagebegründung von Opfern des Polizeieinsatzes kurz umrissen wird:

Die Kläger, die fast alle bei dem Polizeieinsatz verletzt wurden, möchten im Wesentlichen vom Gericht festgestellt haben, dass die Aufforderung der Polizei, bestimmte Bereiche des Schlossgartens zu verlassen sowie die Androhung und Anwendung des unmittelbaren Zwangs durch Einsatz von Wasserwerfern, Schlagstock und Pfefferspray rechtswidrig waren. Zur Begründung tragen sie im Wesentlichen vor, sie seien Teilnehmer einer friedlichen Versammlung gewesen. Der durch die Polizeibeamten ausgesprochene Platzverweis sei rechtswidrig gewesen, da die Auflösung der Versammlung nicht wirksam angeordnet worden sei. Schon aus diesem Grund seien die Androhung und Anwendung der Zwangsmittel unzulässig gewesen. Im Übrigen sei der Einsatz von Wasserwerfern, Schlagstöcken und Pfefferspray unverhältnismäßig gewesen. Insbesondere sei das gezielte Ausrichten des Wasserstrahls der Wasserwerfer auf einzelne Personen angesichts der fehlenden Gefahrenlage völlig überzogen gewesen.“

Zur Erwiderung des Landes heißt es lediglich:

Dem ist das beklagte Land in allen Punkten entgegengetreten.“

Position und Argumentation der klagenden Opfer des Polizeieinsatzes sind seit Langem bis in die Details öffentlich und bekannt. Die Position des Landes bzw. seine Begründungen sind es jedoch nicht. Warum hat das Gericht im Dienste der Transparenz und Demokratie nicht auch sie zusammengefasst und veröffentlicht, um jedem Versuch einer Überforderung und Überrumpelung der Öffentlichkeit nach Möglichkeit entgegen zu treten? Ohne Transparenz keine Demokratie. „Das beklagte Land“, das sind gegenwärtig SPD und GRÜNE. Ob sich GRÜNE UND SOZIALDEMOKARTEN in dem anstehenden Verfahren tatsächlich hinter die CDU der Ministerpräsidenten Oettinger und Mappus stellen, könnte spannend werden.
Der Gewinn an Transparenz dürfte wichtiger sein als die (ohnehin nur vorläufige) Entscheidung des Richters. Laut Stuttgarter Zeitung hat er am ersten Verhandlungstag gesagt: „Wenn die Zusammenkunft im Schlossgarten eine Versammlung war, dann war der Einsatz rechtswidrig.“ Eine mysteriöse Bemerkung! Ist das denn nicht klar? Sie dürfte bedeuten, „das Land“ behauptet, bei der Kundgebung habe es sich nicht um eine friedliche Versammlung mit Demonstrationscharakter gehandelt, sondern „die Demonstranten hätten mithilfe der Aktion zu einer selbsthilfeähnlichen Durchsetzung eigener konkreter Forderungen angesetzt“(vergl. unten Frankfurt Air Base-Urteil Abs. 35), was so viel wie Faustrecht oder Selbstjustiz bedeutet. Es könnte also noch lustig werden.
Im Sinne von mehr Transparenz stelle ich im Folgenden anhand einiger Zitate aus Urteilen des Bundesverfassungsgerichts dar, was eine Versammlung im Sinne des Art. 8 GG ist:
1. Brokdorf-Urteil vom 14.05.1985 zum Versammlungsrecht allgemein,
2. Frankfurt-Air Base-Urteil vom 07.03.2011 zu Sitzblockaden.

Eine Versammlung ist eine örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen zur gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung … Der Schutz ... umfasst vielfältige Formen gemeinsamen Verhaltens bis hin zu nicht verbalen Ausdrucksformen, darunter auch Sitzblockaden (Frankfurt – Air Base – Urteil Abs. 32).“
Eine Versammlung verliert den Schutz des Art. 8 GG grundsätzlich bei kollektiver Unfriedlichkeit. Unfriedlich ist danach eine Versammlung, wenn Handlungen von einiger Gefährlichkeit wie etwa aggressive Ausschreitungen gegen Personen oder Sachen oder sonstige Gewalttätigkeiten stattfinden, nicht aber schon, wenn es zu Behinderungen Dritter kommt, seien diese auch gewollt und nicht nur in Kauf genommen ... Der Schutz des Art. 8 GG besteht zudem unabhängig davon, ob eine Versammlung anmeldepflichtig und dementsprechend angemeldet ist ... Er endet mit der rechtmäßigen Auflösung der Versammlung... (Frankfurt-Airbase-Urteil Abs. 33).“
... Ebenso und erst recht dürfen gegenüber den Veranstaltern und Teilnehmern von Großdemonstrationen keine Anforderungen gestellt werden, welche den Charakter von Demonstrationen als prinzipiell staatsfreie unreglementierte Beiträge zur politischen Meinungsbildung und Willensbildung sowie die Selbstbestimmung der Veranstalter über Art. und Inhalt der Demonstrationen aushöhlen würden. Dies geschieht nicht, soweit von Veranstaltern und Teilnehmern lediglich verlangt wird, unfriedliches Verhalten zu unterlassen und die Beeinträchtigung von Drittinteressen zu minimalisieren (Brokdorf-Urteil Abs. 85).

Als Abwehrrecht, das auch und vor allem andersdenkenden Minderheiten zugute kommt, gewährleistet Art. 8 GG den Grundrechtsträgern das Selbstbestimmungsrecht über Ort, Zeitpunkt, Art. und Inhalt der Veranstaltung und untersagt zugleich staatlichen Zwang, an einer öffentlichen Versammlung teilzunehmen oder ihr fernzubleiben. Schon in diesem Sinne gebührt dem Grundrecht in einem freiheitlichen Staatswesen ein besonderer Rang ... In ihrer Geltung für politische Veranstaltungen verkörpert die Freiheitsgarantie aber zugleich eine Grundentscheidung, die in ihrer Bedeutung über den Schutz gegen staatliche Eingriffe in die ungehinderte Persönlichkeitsentfaltung hinausreicht (Brokdorf-Urteil Abs.62).“

Steht kollektive Unfriedlichkeit nicht zu befürchten, ist also nicht damit zu rechnen, daß eine Demonstration im Ganzen einen gewalttätigen oder aufrührerischen Verlauf nimmt (vgl. § 13 I Nr. 2 VersG) oder daß der Veranstalter oder sein Anhang einen solchen Verlauf anstreben (vgl. § 5 Nr. 3 VersG) oder zumindest billigen, dann muß für die friedlichen Teilnehmer der von der Verfassung jedem Staatsbürger garantierte Schutz der Versammlungsfreiheit auch dann erhalten bleiben, wenn einzelne andere Demonstranten oder eine Minderheit Ausschreitungen begehen ... (Brokdorf-Urteil Abs. 93).“

Soweit das Landgericht darauf abstellt, dass die Demonstranten sich nicht auf die Versammlungsfreiheit berufen könnten, weil ihre Aktion der Erregung von Aufmerksamkeit gedient habe, hat es den Schutzbereich der Versammlungsfreiheit verkannt ... Versteht man die Ausführungen des Landgerichts dahin, dass es zum Ausdruck habe bringen wollen, die Demonstranten hätten mithilfe der Aktion zu einer selbsthilfeähnlichen Durchsetzung eigener konkreter Forderungen angesetzt, erweisen sich diese Erwägungen ebenfalls verfassungsrechtlich als nicht tragfähig. ... (Frankfurt Air Base-Urteil Abs. 35).“

Bei dieser am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierten Zweck-Mittel-Relation sind insbesondere die Art und das Maß der Auswirkungen auf betroffene Dritte und deren Grundrechte zu berücksichtigen. Wichtige Abwägungselemente sind hierbei die Dauer und die Intensität der Aktion, deren vorherige Bekanntgabe, Ausweichmöglichkeiten über andere Zufahrten, die Dringlichkeit des blockierten Transports, aber auch der Sachbezug zwischen den in ihrer Fortbewegungsfreiheit beeinträchtigten Personen und dem Protestgegenstand. … Stehen die äußere Gestaltung und die durch sie ausgelösten Behinderungen in einem Zusammenhang mit dem Versammlungsthema oder betrifft das Anliegen auch die von der Demonstration nachteilig Betroffenen, kann die Beeinträchtigung ihrer Freiheitsrechte unter Berücksichtigung der jeweiligen Umstände möglicherweise eher sozial erträglich und dann in größerem Maße hinzunehmen sein, als wenn dies nicht der Fall ist … (Frankfurt Air Base – Urteil Abs. 39)