Das
Versammlungsrecht steht über dem Gesetz
und
auch dem Bundesverfassungsgericht!
v.
i. S. d. P.
reinhart.vowinckel@web.de
http://vowinckel.blogspot.de
30.11.2015
Die
5. Kammer des Stuttgarter Verwaltungsgerichts hat entschieden: Das
Vorgehen von Polizei, und Staatsanwaltschaft am 30.09.2010, dem
„Schwarzen Donnerstag“, war der Auffassung der fünf Richterinnen
und Richter nach rechtswidrig. Vor allem werfen sie der damaligen
Regierung Mappus und der Polizei vor, das Grundrecht der Bürger auf
freie Versammlung missachtet und geleugnet zu haben, indem sie und
die Nachfolgerregierung der Versammlung den Versammlungscharakter
absprachen. Das ist ein bundesweit beachteter Erfolg der Stuttgarter
Bürgerbewegung, den wir hüten, bewahren und pflegen sollten wie
einen Schatz.
Aber
noch ist er nicht in trocknen Tüchern. Zwar ist es eher
unwahrscheinlich, dass die Landesregierung noch in die zweite Instanz
geht. Das brächte mit Sicherheit schlechte Presse, und die
Landtagswahlen stehen vor der Tür. Schlechte Presse könnte da
Stimmen kosten. Aber sicher ist das nicht.
Entscheidend
wird sein, wie die schriftliche Urteilsbegründung aussieht und wie
darin mit dem zentralen Gegenargument der Landesregierung und ihrer
Anwälte umgegangen wird. Das ist der Verweis auf ein Urteil des
Bundesverfassungsgerichts vom 24.10.2001. In jenem Urteil ging es um
eine mehrtägige Verkehrsblockade von über 600 Roma auf der Autobahn
an der Schweizer Grenze bei Basel im Jahr 1990, die weiträumige
Umleitungen und Umwege zur Folge gehabt hatte. Die von ihrer
Abschiebung aus Deutschland bedrohten Roma wollten damals mit einem
Aufsehen erregenden Marsch auf Genf und einer Kundgebung vor dem
Flüchtlingshochkommissariat der Vereinten Nationen gegen die
Roma-Politik deutscher Behörden und die Verletzung der Europäischen
Flüchtlingskonvention demonstrieren. Damals gab es noch nicht die
heutige „Willkommenskultur“. Aus der geplanten Demonstration für
die Sache der Roma wurde eine Demonstration bei Basel.
Parallelen
zwischen „Schwarzem Donnerstag“ und Autobahnblockade sind wohl
unbestreitbar. Auch der spontanen Versammlung der Roma auf der
Autobahn war vom Verfassungsgericht vor allem der
Versammlungscharakter abgesprochen worden. Es geht also um mehr als
um den möglichen Verlust von ein paar Wählerstimmen. Das Urteil
widerspricht, jedenfalls indirekt, auch der Rechtsprechung des
Verfassungsgerichts, und die ist in diesem konkreten Fall des
Roma-Urteils allen Gemeindeverwaltungen der Republik lieb und teuer.
Vereinfacht sie doch das Verbot, die Auflösung oder auch die
Zerschlagung von hartnäckigen Versammlungen.
Aber
davon haben sich die unabhängigen Stuttgarter Richter offensichtlich
nicht beeindrucken lassen. Und sie haben recht. Bereits das
Roma-Urteil des Verfassungsgerichts im Jahr 2001 war ein Akt der
Willkür. Und wenn nun jemand fragt, wie kannst Du als juristischer
Laie so etwas sagen, dann antworte ich: Richter sind auch nur
Menschen mit ihren ganz persönlichen oder auch professionsgebundenen
Wertvorstellungen. Der seiner selbst bewusste Bürger darf sogar
höchsten Richtern widersprechen. Es gibt bis heute in der
Bundesrepublik keine „gefestigte Rechtsprechung“ zu
demonstrativen, also in ihrem Wesen symbolischen, zeichenhaften
Verkehrsbehinderungen. Verwaltungen und Regierungen und der
Bundesgerichtshof tragen als Monstranz vermeintlicher politischer
Vernunft eine „Staatsraison“ vor sich her: Widerstand gegen die
Staatsmacht, und sei er noch so frei von Gewalttätigkeit, ist in der
Demokratie ein Verbrechen. Das Versammlungsrecht ist jedoch ein
Widerstandsrecht und deswegen für „die Politik“ unbequem.
Deswegen ist die Rechtsprechung zu Sitzdemonstrationen auch so
widersprüchlich und offensichtlich auch für Juristen oft
verwirrend.
Art.
8 GG stellt nach
internationalem Recht und gefestigter Rechtsprechung auch
des
Bundesverfassungsgerichts für
den
Schutz des Rechts auf Versammlungen nur
zwei Bedingungen:
1.
Der Zweck einer Versammlung, gleichgültig ob spontan oder
angemeldet, ob zu Fuß, per Pobacke oder per Wohnwagen, muss von den
sich Versammelnden als ein Beitrag zur öffentlichen politischen
Kommunikation gedacht sein. Was zählt, ist der kommunikative
Charakter der Demonstration als Beitrag zur politischen Meinungs- und
Willensbildung. Nur darin besteht der allgemeine gesellschaftliche
Wert von Versammlungen, nicht in ihren konkreten Zielsetzungen.
2.
Die Versammlung muss im Wesentlichen friedlich sein, das heißt
unbewaffnet und ohne Gewalttätigkeiten gegen Menschen oder Sachen.
Ausschreitungen einzelner Versammlungsteilnehmer heben, wie auch das
Verwaltungsgericht schon festgestellt hat, das Versammlungsrecht
nicht auf.
Schauen
wir uns unter diesen zwei Aspekten an, was das Verfassungsgericht zur
Roma-Demo festhielt:
Zitat
1:
„Nach den
Feststellungen des Amtsgerichts zielte die Blockadeaktion der Roma
und Sinti darauf, nach Verweigerung der Einreise in die Schweiz
dennoch
unbedingt ein Gespräch mit dem Hohen Flüchtlingskommissar in Genf
zu erreichen
und
dafür die Einreise zu erzwingen.
Darauf waren auch die parallel zur Blockade geführten Verhandlungen
über die Einreise und über die Möglichkeit zur Beendigung der
Aktion gerichtet (Roma-Urteil
BVerfGE ….. Abs.
41).“
Zitat 2:
„Das
Amtsgericht hat zur Begründung der Verwerflichkeit
des Handelns des Beschwerdeführers nachvollziehbar insbesondere auf
die über 24 Stunden hinausgehende Dauer der Blockade
abgestellt und im Rahmen der Strafzumessung in verfassungsrechtlich
unbedenklicher Weise auch strafmildernd berücksichtigt, dass Anlass
für die Aktion die Sorge um die Abschiebung und damit möglicherweise
verknüpfte Gefahren für Leib und Leben war. (Roma-Urteil
BVerfGE ….Abs. 69).“
Zitat 3:
„Demgegenüber
diente … die Blockade des Grenzübergangs an der Autobahn nicht,
jedenfalls nicht in erster Linie, der Kundgebung einer Meinung oder
der Erregung öffentlicher Aufmerksamkeit für ein kommunikatives
Anliegen .“
Dem
Vorsitzenden des Roma-Nationalkongresses wurde nicht
„Unfriedlichkeit“ vorgeworfen, sondern lediglich Nötigung nach §
240 StGB, die „selbsthilfeähnliche
Durchsetzung eigener Forderungen“
und
die
„Erzwingung
des eigenen Vorhabens“.
(Mit der strafrechtlichen Behandlung von
Sitzdemonstratioinen werde ich mich im nächsten, meinem vierten
Flyer zum Urteil des Stuttgarter Verwaltungsgerichts noch
auseinandersetzen, pünktlich zur 300. Montagsdemo.) Aber der
Versammlungscharakter der Autobahnblockade wurde einfach geleugnet,
für mich nicht nachvollziehbar. Wer es im Jahr 1990 sehen wollte,
der sah auch, dass es bei der gesamten Aktion um einen verzweifelten
Appell an das europäische und insbesondere deutsche menschliche und
politische Gewissen ging. Das Amtsgericht hat selbst eingeräumt,
dass es um „Gefahren für Leib und Leben“ ging.
(Zahlreiche Roma, insbesondere ihre Kinder, waren auf der Flucht von
Ort zu Ort bereits erkrankt.) Und nach dem in den 90er Jahren mehrere
tausend Roma und Sinti eine Duldung erhalten hatten, war diese
Tatsache im Jahr 2001 noch unübersehbarer. Die von der europäischen
Öffentlichkeit sehr wohl wahrgenommene politische Versammlung auf
der deutschen Autobahn war der spontane Ersatz für die verhinderte
Versammlung vor dem Gebäude des Hochkommissars für das
Flüchtlingswesen, und sie dürfte eine weitaus stärkere
kommunikative Wirkung entfaltet haben, als die geplante Versammlung
in Genf hätte entfalten können. Die Roma wollten und mussten die
Einreise in die Schweiz nicht erzwingen. Ihr Ziel hatten sie bereits
erreicht. So wie die Versammlung am 30.09.2010 im Schlossgarten eine
weitaus größere kommunikative Wirkung entfaltet hat als jede
Montagsdemo.
In
der Pressemitteilung des VG zum
Urteil vom
11.11.2015 wird jedoch nicht auf den alles entscheidenden
kommunikativen Charakter der Versammlung abgehoben. Vielmehr heißt
es dort, „bei
der Verhinderung
der Baumfällarbeiten und der Errichtung des Grundwassermanagements
habe es sich lediglich um ein Nahziel
zur Erreichung des Fernziels
der Verhinderung
des Umbaus des Bahnknotens Stuttgart gehandelt“.Die
Unterscheidung zwischen Nah- und Fernziel ist jedoch nicht sinnvoll
und hilfreich. Die Landesregierung könnte daraus den Schluss ziehen:
Aha, also doch nur „Verhinderungsblockade“. Von dieser Begründung
habe ich in der mündlichen Vorstellung des Urteils auch nichts
vernommen. Mit ihr würde das Verwaltungsgericht der Argumentation
der Gegenseite in die Arme laufen. Die „Fernziele“ sind für die
rechtliche Behandlung von Versammlungen ohne jede Bedeutung. Sie sind
allein Sache der Demonstranten. Und auch das „Nahziel“ einer
Behinderung
– nicht Verhinderung!
- gehört zur „Sprache“ von Versammlungen.