Sitzblockaden:
Auflehnung gegen die Rechtsordnung – von unten oder Auflehnung
gegen die Rechtsordnung von
oben?
V.i.S.d.P.
reinhart.vowinckel@web.de
http://vowinckel.blogspot.de 06.12.2015
Politisch
motivierte Verkehrsblockaden werden in der Bundesrepublik, anders
als z. B. in den USA, nach § 240 StGB als strafbare Nötigung
geahndet. Das bedeutet: Nach
angeblich „allgemeiner
Anschauung“ ist eine
Kriminalstrafe, z. B. für Nötigung
„ein
ehrenrühriges, autoritatives Unwerturteil über eine Verhaltensweise
des Täters, der Vorwurf einer Auflehnung gegen die Rechtsordnung
...(BVerfGE
16.07.1969,
Abs. 46).“
Eine
demonstrative Verkehrsblockade demonstriert für unsere
Rechtsprechung also in aller Regel kriminelle Auflehnung gegen
unsere Rechtsordnung, eine
absurde Deutung.
Tatsächlich und auch rechtlich ist es genau
umgekehrt. Nicht die demonstrative Verkehrsblockade signalisiert
Auflehnung gegen unsere Rechtsordnung, sondern ihre Kriminalisierung
durch die deutsche Justiz. Vor der Auseinandersetzung mit
der strafrechtlichen Behandlung von Sitzdemonstrationen noch einmal
eine Zusammenfassung grundrechtlicher Aspekte in vier Thesen:
1. These: Das
Grundrecht der Versammlungsfreiheit wird allein durch die Gebote der
Meinungsbildung
und
der Friedlichkeit eingeschränkt.
Häufigkeit, Dauer und Ort einer Versammlung unter
freiem Himmel und im öffentlichen Raum unterliegen
verfassungsrechtlich
deshalb allein
der Bestimmung durch die Versammelten. Das
gilt
z.B.
auch
für die Lokalisierung von Montagsdemonstrationen vor dem Stuttgarter
Hauptbahnhof,
und
sei es „nur“ zur Verteidigung
der Versammlungsfreiheit selbst.
2.
These:
Die
sogenannten
„Fernziele“ (vergl.
BGHSt 1 StR 5/88), z.B.
der
Verhinderung eines Krieges oder
des Umweltschutzes sind
für die grundrechtliche
Behandlung von Versammlungen ohne jede Bedeutung.
Das
Versammlungsrecht ist politisch so
neutral,
wie ein Mensch nicht sein kann und
auch nicht sein sollte.
3.
These:
Gegenüber
dem „besonderen“
Grundrecht der Versammlungsfreiheit und dem hinter ihm stehenden
generellen
gesellschaftlichen
Nutzen von politischen
Versammlungen,
gleich
welcher Art, sind
Verkehrsbelästigungen grundsätzlich
„sozialadaequat“
und nie
„verwerflich“.
Und
das nicht nur
nach
richterlichem Gutdünken.
Daran ändert auch das so genannte „Recht
auf Fortbewegungsfreiheit“
(s.
Roma-Urteil) nichts.
Die Rechtsprechung hat davon auszugehen, dass in
aller Regel gerade
erst
durch
eine
gewisse Dauer
der
Verkehrsbehinderung Aufmerksamkeit
der Medien und damit der Öffentlichkeit erreicht wird
(vergl.1
BvR 388/05, 07.03.2011 Abs.
34).
Eine
Verrechnung mit dem bloßen
Zwang,
Umwege zu machen, ist
unverhältnismäßig. Sie schwächt
die Autorität des Versammlungsrechts und verletzt die Würde von
Demonstranten als besonders verantwortungsbewussten
Staatsbürgern, die
einer ehrenamtlichen Tätigkeit nachgehen.
4.
These:
Der
durch Verkehrsbehinderungen
angerichtete
Schaden für die „öffentliche Ordnung“ ist gering
verglichen
mit dem Schaden,
der durch rechtswidrige Verbote und Bestrafungen angerichtet wird.
Zum
einen führt
die Erniedrigung durch
ein ehrenrühriges Urteil gerade
gegen
Staatsbürger,
die ihrer Verantwortung für das Gemeinwohl mit Zivilcourage
nachkommen, bei
einem Teil der Demonstrierenden
zu
Frustration
und
Depression
oder
gar zu
Staatsverdrossenheit, also
zum Gegenteil von dem, wozu das Versammlungsrecht gedacht ist.
Zum
anderen gerät
durch eine solche Rechtspolitik auch das Versammlungsrecht selbst
in
Misskredit.
Die
Bürger werden
zu
einer eher
verächtlichen als respektvollen Haltung gegenüber
dem
Versammlungsrecht und damit auch gegenüber
dem
Grundgesetz verführt
und erzogen. Die erzieherische Funktion der Rechtsprechung sollte
aber
vielmehr
gerade
darin
bestehen, dass der Bürger lernt: Grundgesetzgemäßes
politisches
Engagement, das Aufmerksamkeit verlangt, ist mehr als Belästigung.
Es
ist vielmehr eine in
ihrem Wert weithin
verkannte Form aufopferungsvoller
ehrenamtlicher
Betätigung.
Nun zur strafrechtlichen
Behandlung von Sitzdemonstrationen. Da sieht es nicht viel anders
aus.
Zum Versammlungsgesetz stellte
das Verfassungsgericht einst fest:
„Die
bloße Gefährdung der öffentlichen Ordnung kann ein
Versammlungsverbot … grundsätzlich nicht rechtfertigen ...“
(Verfassungsgericht
im
Jahr 2007 im Heiligendamm-Urteil
Abs. 26).
„Unter
'öffentlicher
Ordnung'
wird die Gesamtheit
der ungeschriebenen Regeln verstanden,
deren Befolgung nach den jeweils herrschenden sozialen und ethischen
Anschauungen als unerläßliche Voraussetzung eines geordneten
menschlichen Zusammenlebens innerhalb eines bestimmten Gebiets
angesehen wird“
(Brokdorf-Urteil
Abs.78).
Einfache
Verstöße gegen Verkehrsregeln unterliegen
jedoch der
Straßenverkehrsordnung, also der „öffentlichen
Ordnung“, und ziehen
vielleicht ein Bußgeld nach sich, aber kein ehrenrühriges
Strafurteil. Auch
Nötigungen sind nur strafbar, wenn sie „verwerflich“
sind. Der „Straftatbestand“ der Verwerflichkeit gehört
jedoch zum „ungeschriebenen“,
nicht vom Gesetzgeber entsprechend GG Art. 103 „bestimmten“
Recht. Also gehört auch die
Verfolgung von Nötigungen zur Aufrechterhaltung der öffentlichen
Ordnung. Wenn aber die „bloße
Gefährdung der öffentlichen Ordnung ein Versammlungsverbot …
grundsätzlich nicht rechtfertigen“ kann,
dann kann sie
auch nicht zu einer Bestrafung führen.
Aber
das ist alles graue Theorie, denn wir haben es mit einem politischen
Dogma, einem geradezu religiösen Glaubenssatz (vergleiche Paulus an
die Römer) zu tun, dem Dogma von der Unfehlbarkeit, in diesem Fall
nicht der Kirche, sondern des Staates und --- seiner Richter und
andererseits von der stets kriminellen Energie „militanter
Minderheiten, denen die Argumente fehlen“ (vergl.
Fernziele-Urteil des BGH). „Sitzblockaden“ sind demnach
Demonstrationen „zivilen Ungehorsams“ gegenüber der Staatsmacht,
eben „Auflehnungen gegen die Rechtsordnung“, Grundgesetz
hin oder her, ganz „neutral“. Wir haben es also mit
einem Relikt des historischen Absolutismus, des „Gottesgnadentums“
zu tun.
Deswegen
sei an dieser Stelle an das einzige Gegengift gegen
höchstrichterliche Selbstherrlichkeit erinnert, das
„Bestimmtheitsgebot“ nach Art. 103 GG, ein weitgehend unbekanntes
Grundrecht:
„Eine
Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich
bestimmt
war, bevor die Tat begangen wurde.“ (wortgleich
in § 1 des heutigen Strafgesetzbuches.)
„Bestimmt“
bedeutet zum einen, dass bei der Gesetzgebung der „Wortsinn
aus der Sicht des Bürgers zu bestimmen“
ist
(BvR
388/05 vom 07.03.2011
Abs.
21), zum
anderen, dass allein der Gesetzgeber über den Schutz eines
„Rechtsgutes“ durch Strafe zu befinden hat und Gerichte
diese Entscheidung nicht korrigieren dürfen
(vergl.
Mutlangen-Urteil Abs. 66)
. Der
Bundesgerichtshof hat jedoch verschiedentlich sehr wohl „korrigiert“,
und das nicht nur einfache Gesetze, sondern sogar das Grundgesetz,
und das ausgerechnet in Sachen § 240 StGB. Der lautet auf Grund
einer „Korrektur“ durch die Nationalsozialisten folgendermaßen:
1) „Wer einen Menschen rechtswidrig mit Gewalt oder durch
Drohung mit einem empfindlichen Übel zu einer Handlung, Duldung oder
Unterlassung nötigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren
oder mit Geldstrafe bestraft.
(2) Rechtswidrig ist die Tat, wenn die Anwendung der Gewalt oder
die Androhung des Übels zu dem angestrebten Zweck als verwerflich
anzusehen ist.
Den
zweiten Absatz hatte es bis zum Jahr 1943 gar nicht gegeben. Im Jahr
1952 sollte der BGH auf Nachfrage von Kollegen niederen Ranges
erklären, wie „Verwerflichkeit“
die selbe Bedeutung haben könne wie „Rechtswidrigkeit“.
Die Antwort lautete:
„Hier
fällt deshalb dem Richter die Aufgabe zu, an
Stelle des Gesetzgebers
durch unmittelbare Wertung zu entscheiden, ob die tatbestandsmäßige
Nötigung im Einzelfalle rechtswidrig ist oder nicht ...(BGHSt
2, 194 18.03.1952
Abs. 7).“
Genau
das ist jedoch nach Art. 103 sogar grundgesetzlich verboten.
Aber so wurde es gemacht, bis heute. Der Richter entscheidet, was
„Gewalt“ ist, und dass Gewalt Strafbarkeit bedeutet, obwohl der
Paragraph ausdrücklich Strafbarkeit nur bei „verwerflicher“
Gewalt vorsieht und nicht bei jeder.