„Die Zahlmeister von Stuttgart 21“ Leserzuschrift
an Spiegel online
Als Anhang: Seite aus
Gutachten der Juristen zu S21
Sehr geehrter Herr Janssen,
in Ihrem Artikel
„Münchhausencheck Das sind die
Zahlmeister von Stuttgart 21“ vertreten Sie die Auffassung: „Es
wäre fair, wenn das Land Baden-Württemberg und die Stadt Stuttgart einen Anteil
an den Mehrkosten von Stuttgart 21 trügen. Schließlich haben sie der Republik
die Sache mit eingebrockt.“ Das klingt fair, aber nur für solche Leser,
die nicht viel über den Konflikt um S21 wissen. Sie haben einiges nicht auf dem
Bildschirm. Deswegen ist Ihr Vorschlag unrealistisch. Die Geschichte wird über
ihn hinweggehen. Eine faire Lösung wird es nur mit einem Projektabbruch geben.
Ich will versuchen, Ihnen dafür Gründe zu zeigen.
I. SCHRECKEN OHNE ENDE ODER ENDE MIT SCHRECKEN?
1. Land und Stadt haben bereits einen Anteil der Projektkosten
bezahlt, die Stadt eine halbe Milliarde, das Land eine Milliarde, und das bereits
bevor das Projekt begonnen wurde und obwohl Bau und Unterhaltung von Bahnhöfen
Bundes- und nicht Ländersache sind.
2. Land und Stadt sollen laut
Vorstellungen der Bahn und des Bundes nicht nur einen Anteil an den nicht
kalkulierbaren Mehrkosten übernehmen, sondern die gesamten Mehrkosten, auch die zwei Milliarden Mehrkosten, die
der Aufsichtsrat der Bahn bereits genehmigt
hat, also aller Wahrscheinlichkeit nach insgesamt einen zweistelligen
Milliardenbetrag.
3. Die zu erwartenden Mehrkosten über die bereits
festgestellten Kosten in Höhe von 6,5 Milliarden hinaus bewegen sich laut
unabhängigen Experten in einer Höhe zwischen 10 bis 15 Milliarden mit Luft nach oben. Die können und sollten
weder die Bahn noch Land und Stadt stemmen. Eine derartige Verpflichtung wäre
in Zeiten der Staatsschulden- und Eurokrise unverantwortlich.
4. Ein Jahre, vielleicht auch
Jahrzehnte andauernder „kalter Krieg“
zwischen Berlin und Stuttgart wäre beim Weiterbau vorprogrammiert, denn es geht
um einen Betrug historischen Ausmaßes (s. u.).
5. Der entschlossene Projektabbruch mit Kosten von einer
halben bis zu einer Milliarde auf beiden Seiten, also ein Ende mit Schrecken, würde
dem Ansehen deutscher Ingenieurs- und Regierungskunst weniger schaden als die
mit der Fortsetzung des Projekts verbundene Erosion des
Respekts vor Bahn, Land und Bund, also ein Schrecken
ohne Ende.
II. ANGST STATT RESPEKT
Sie, Herr Janssen, sehen den
Konflikt noch allein von seiner materiellen Seite. Sie befürchten, dass die Bürger der
Bundesrepublik für die Bürger Baden-Württembergs und Stuttgart 21 bluten sollen
und bedienen damit auch Gefühle des Neides und der Missgunst. Klar, das muss
und darf auch sein. Auch diese Gefühle gibt es nun einmal, und solche Gefühle
haben auf der Seite der CDU als vertragsschließender Partei auch eine
erhebliche, auch öffentlich bekannt gewordene Rolle gespielt. Z. B. bei dem CDU-Kreisvorsitzenden und
Bundestagsabgeordneten und Mitglied des Bundestagsverkehrsausschusses Stefan
Kaufmann, dessen Glaubensbekenntnis zu S21 lautet: „Als Stuttgarter sage ich aber: Auch wenn es richtig teuer wird – wir
sollten es machen. Wir zahlen Milliarden in den Länderfinanzausgleich. Jetzt
kriegen wir einmal was zurück – und dann wollen wir es nicht haben.“ (Die
Zeit online: „Vorbei aber nicht überstanden“) Er hat in seiner Begeisterung
offensichtlich noch gar nicht mitbekommen, dass wir zahlen sollen und das nicht
zu knapp, und nichts geschenkt bekommen. Aber derart desorientierte Politiker
regieren uns.
Ich halte deswegen den
immateriellen Schaden des Projekts für viel schwerwiegender. Wie sicherlich
auch Sie wissen, geht es im inzwischen erreichten Stadium der Auseinandersetzungen
um S21 eigentlich gar nicht mehr um das materielle Kosten-Nutzen-Verhältnis des Projekts, sondern um die Machtfrage. Die
Regierenden meinen, unter allen Umständen recht behalten zu müssen, damit sie
nicht ihre Autorität verlieren. Die Regierung
Merkel und die Vertreter anderer Eliten bis zum Präsidenten des
Bundesverfassungsgerichts Voßkuhle hinauf sehen in irrationaler Verkennung der
Proportionen Deutschlands Weltmarkt- und Weltmachtposition und auch ihre eigene
Position gefährdet durch den Anspruch deutscher Bürger auf Elemente direkter Demokratie, wie es sie z. B.
in der Schweiz ganz selbstverständlich gibt. Sie sehen in ihnen Staatsfeinde
oder zumindest potentielle. Statt
Respekt haben sie Angst vor dem selbstbewussten Bürger. Deswegen betrügen
Politiker lieber den Bürger und demütigen ihn dadurch, indem sie so seine
Intelligenz beleidigen.
Die in Ansätzen bereits selbstbewusste
Stuttgarter Protestbewegung vertritt demgegenüber
das Recht der Bürger auf Mitgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse auch
über Parlamentswahlen hinaus. Sie setzt
auf die stabilere, auf die nachhaltige Intelligenz des Kollektivs.
Es geht also beiden Seiten um ein
Prinzip. Soll die Staatsgewalt auch vom „dummen“
bzw. für zu dumm gehaltenen Volke ausgehen, wie es die Verfassung vorsieht, oder
nur von den „weisen“ und als Profis sich für allein kompetent haltenden Eliten?
Deswegen versuchen die Parteien auch das
Thema Demokratie und das heißt auch das Thema Fairness, also das wichtigste
Thema weltweit, wie es sich auch bei S21
stellt, aus dem Bundestagswahlkampf
herauszuhalten. Das wird ihnen jedoch nicht gelingen.
III. LUG UND BETRUG
Sie halten fest: „Die Planung des Projekts ist
gemeinschaftlich von Bahn, Bund, Land und Stadt verabschiedet worden. Der
mittlerweile grün-rot dominierte Stuttgarter Landtag wie auch eine
Volksabstimmung Ende 2011 haben zudem den Verbleib das Landes im Projekt bestätigt.“ Alles richtig, aber
vergessen Sie es, so radikal und hart das klingen mag. Das alles wird entwertet
durch Lug und Trug sowie Inkompetenz der Protagonisten. Dazu einige Beispiele:
1. „ Die GRÜNEN und die SÖS hatten zu
recht darauf hingewiesen, dass das Land
nicht ohne Zustimmung des Gemeinderats
die Ausstiegsklausel im Finanzierungsvertrag hätte vereinbaren dürfen (vergl. §
2.2 sowie § 8.4)… Die Ausstiegsklausel erlaubte der Bahn faktisch, das Projekt
auch bei voraussichtlichen Baukosten von 4,546 Mrd. € ohne Risikopuffer
auszuführen. Der Gemeinderat hatte aber 2007 nur einem Projekt mit Baukosten
von 2,8 Mrd. € und einem satten Risikopuffer von 1,32 Mrd. € zugestimmt. Die
Fraktionen wollten auf den Risikopuffer nicht verzichten und forderten, dass
die Bahn ihre Kalkulation vorher abschließen sollte…(Dr. Schuster) erklärte(daraufhin), die Deutsche Bahn trage als
Bauherrin das Risiko. (Stellungnahme vom 24.09.2009)“ (zitiert aus einem Gutachten der „Juristen
zu Stuttgart 21“) So fegte der OB den Finger von der Wunde.
Denn laut Vertrag trägt die Bahn
ausdrücklich keinerlei Risiko (§ 2.2). Das tun ausschließlich Land und Stadt.
Also Legitimität der Zahlungsverpflichtung der Stadt? Verlogenheit oder
Inkompetenz des OB?
2. Im Finanzierungsvertrag sind die Übernahme irgendwelcher Kostenrisiken
durch Bund und Bahn sowie ein
ordentliches Kündigungsrecht und ein Ausstieg aus dem Projekt ausdrücklich ausgeschlossen.
So wurde die Unumkehrbarkeit für Land, Region und Stadt von Bund und Bahn rechtlich zementiert. Was jedoch nicht zementiert
wurde, ist die Übernahme der Kostenrisiken durch Land, Stadt usw. Sie wird nur
informell und verdruckst angedeutet in der sogenannten Sprechklausel. Diese Klausel ist im Kern ein von Land und Stadt für
die Bahn ausgestellter Blankoscheck
zur Kostendeckung für noch nicht einmal geplante Risiken. Die Bahn soll und
will eben gerade keinerlei Mehrkosten zahlen für das, was sie anrichtet. Genau
so wurde es von CDU, FDP und Bahn im Finanzierungsvertrag denn auch geplant.
Peu à peu, ohne dass es den Bürgern auffällt, sollte der „Scheck“ eingelöst
werden, so wie Grube jetzt nur „von Fall zu Fall“ und erst ab 2016 vor Gericht
zu gehen droht, nachdem er wegen des
Kostendeckels die Sprechklausel nicht mehr einfach „ziehen“ kann wie den
Revolver.
Es ist der Kostendeckel der
heutigen grünrosa Landesregierung, der wie eine gezogene Notbremse vor der von
der schwarzgelben Vorgängerregierung vertraglich geplanten und aus Angst vor
dem Bürger stümperhaft vereinbarten Erpressbarkeit des Landes schützt. Und darum geht es heute beim Konflikt um
Stuttgart 21.
Auch Sie, Herr Janssen, können
das bei genauem Hinschauen am Finanzierungsvertrag selbst nachprüfen. Wenn Sie
mir das aber nicht abnehmen wollen, so lesen Sie vielleicht der Einfachheit
halber die Stuttgarter Zeitung vom 15. diesen Monats. Dort wird, gestützt auf
Dokumente aus der Ära Oettinger, berichtet,
was MP Oettinger seinerzeit zu der hastigen Unterzeichnung des
Finanzierungsvertrags veranlasste. Er wollte „keine langen Kostendiskussionen“: „Allein aufgrund der öffentlichen
Debatte habe das Land großes Interesse am schnellen Abschluss der
Finanzierungsvereinbarung. Sie mache das
Projekt unumkehrbar und helfe, die verunsicherten Bürger auf die Seite der
Befürworter zu bringen“. (http://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.stuttgart-21-keine-silbe-kritik-zur-kostenexplosion.15c7ee32-faf7-4ce1-8261-6af41100117b.html)
Wenn auch Sie sich auf die
parlamentarischen Legitimierungen des Projekts berufen, dann geht es um die
Legitimierung genau dieses die Bürger betrügenden Finanzierungsvertrags. Wenn
Sie sich das klarmachen, verstehen Sie auch, warum OB Schuster, ein halbes Jahr
nach Unterzeichnung des Finanzierungsvertrags nichts wissen wollte von einem
Antrag des Gemeinderates, den Vertragsabschluss noch einmal aufzurollen.
3. Auch Sie berufen sich darüber
hinaus auf die Volksabstimmung (VA),
ebenfalls ein betrügerisches Unternehmen, diesmal allerdings nicht einer
CDU-FDP-Regierung, sondern einer grünrosa Regierung. Auf Grund der Bestimmungen
der Landesverfassung blieb diese
Abstimmung trotz einer Mehrheit pro Finanzierungsvertrag (gerade einmal 28,9
Prozent der Abstimmungsberechtigten!) rechtlich folgenlos und kann deshalb auch
den Finanzierungsvertrag nicht noch einmal legitimiert haben. Sie hat kein
Recht geschaffen. Außerdem wurde auch noch über eine Wahrnehmung von Kündigungsrechten
abgestimmt, die es, wie bereits erwähnt, gar nicht gibt.
Aber vergessen wir das einmal. Gehen
wir wie zuerst MP Kretschmann, dann die SPD, die CDU, die FDP und sogar die Justiz
im Lande davon aus, die Volksabstimmung habe doch eine die Politik bindende
Kraft, also „Rechtssetzungsmacht“ entfaltet. Dann müssen all die Genannten und
auch Sie, Herr Jansen, auch dem von der Landesregierung verkündeten „Kostendeckel“
bindende Kraft beimessen. Die
Abstimmenden durften auf dieses Versprechen vertrauen. Wo bleibt da die Identität
der Entscheider und die Ihre?
IV. KOSTENDECKEL -
STRICH DURCH DEN FINANZIERUNGSVERTRAG
Alle Projektbefürworter und
Projektbetreiber berufen sich auf die in § 16 (10) vertraglich vereinbarte
Projektförderpflicht. Aber diese Pflicht umfasst eben nicht auch die Pflicht,
Mehrkosten zu übernehmen. Im Finanzierungsvertrag wird eine solche Pflicht in Form
der Sprechklausel lediglich informell angedeutet, was von einem Gericht
vermutlich lediglich als Absichtserklärung und nicht als Pflicht gedeutet
würde. Der Grund für diese alberne Klausel dürfte in der Absicht der damaligen
Landesregierung liegen, die Bodenlosigkeit des Fasses S21 vor den Bürgern zu
verbergen. Und diese Blöße nutzt nun die neue Landesregierung mit ihrem
Kostendeckel, vermutlich zum großen Verdruss auch der SPD-Führung im Landtag. Der Kostendeckel ist der Strich durch den schamlosen
Finanzierungsvertrag.
Die Chuzpe, mit der hier das Volk
für dumm verkauft wurde und wird, und nicht nur das Volk, ist nicht strafbar. Strafrechtlich haben wir gegen derartige
Willkür nichts zu bestellen. Der einzige
Weg, die Verantwortlichen zu „bestrafen“, so dass sie es heilsam fühlen ist:
sie nicht durchkommen lassen mit ihrem Modelleisenbahnprojekt. Das täte
ihnen sicher sehr weh. Mit dem Weiterbau
und dessen Finanzierung aber würde der Betrug nur belohnt.
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