Verteidigen wir das Demonstrationsrecht!
Reinhart.vowinckel@web.de
/ http://vowinckel.blogspot.de / Statement
Nr. 13 / 11.12.13
Immer mehr Protestgruppen scheinen
für die Annahme des Marktsplatzes an Stelle der Schillerstraße vor dem Bahnhof
als regelmäßiger Ort der Montagsdemos zu sein. Vor ein paar Monaten am Beginn
dieser Diskussion habe auch ich mich für den Marktplatz ausgesprochen.
Eigentlich war mir das egal. Beide Orte haben etwas für und etwas gegen sich.
Plakativ formuliert bedeutete der Bahnhof politisch auch das Provozieren der
Spießer, das Rathaus jedoch deren Besänftigung, aber auch Anpassung an sie.
Beides ist nicht mein Ding. Politische Verkehrsblockaden sind ein Akt sanfter
Gewalt gegenüber „Unbeteiligten“, also sich unbeteiligt fühlenden Bürgern.
Diese Form der sanften Gewalt ist zwar grundrechtlich geschützt und wird nicht
als Nötigung sondern als hinzunehmende Belästigung behandelt. Sie wird aber auch von vielen Bürgern, die
nicht spießig sind, aus Unverständnis als Nötigung empfunden.
Meine Position begann sich jedoch im Laufe der
sich verschärfenden internen Debatte zu ändern. Ich begann zu spüren, dass mehr
hinter der Debatte steckte. Für mich war schon immer klar: Ohne die Provokation
unsere „Berufsdemonstranten“, Blockierer, Baumbesetzer, und Parkcamper wäre
unser Protest letztlich zahnlos geblieben und hätte nie die Bedeutung erlangt,
die er erlangt hat. Und von Anfang an haben sich an ihnen vor allem Spießer
gerieben, auch die in den eigenen Reihen. „So etwas tut man nicht.“ „Die
gehören nicht zu uns.“ „Die kleiden sich peinlich.“ usw. Aber vielleicht waren
die von mir Spießer genannten auch die, die vor einer realen Gefahr warnten,
nämlich der Gefahr, einem Privileg nicht mehr
durch eigene, aufklärerische Leistungen gerecht zu werden.
Meine Haltung in der Ortsfrage
unserer Demos änderte sich jedoch grundlegend, als CDU-Ordnungsbürgermeister
Schairer, gestützt auf eine von der CDU verlangte Recherche der
Stadtverwaltung, für die Weihnachtszeit die bereits langfristig genehmigten
Montagsdemos am Bahnhof verbieten wollte. Nun war endgültig klar, dass es hier
nicht mehr um die Frage der Zweckmäßigkeit ging, die im Konsensverfahren zu
klären wäre, sondern vor allem um Macht.
Bei Machtfragen geht es nicht um
Zweckmäßigkeit, nicht um Recht und Wahrheit oder gar Moral, sondern um
Mehrheiten, ob sie nun real oder nur vorgespiegelt sind. Kretschmann lässt
grüßen. Bürgermeister Schairer setzt propagandistisch, aber auch nur
propagandistisch auf die Karte des
Rechts. 1. Die Umsätze des Einzelhandels in der City sänken an Montagabenden.
2. Die Busse könnten an Montagabenden nicht fahrplanmäßig an- und abfahren.
Zu 1 ist zu sagen: Die Umsätze von Montagabenden verlagern sich mit
Sicherheit auf die restlichen Tage der Woche, denn gekauft und konsumiert wird
so oder so. Dieser Einwand dürfte vor dem Demonstrationsrecht kaum Bestand
haben. (Vergleiche meine gestern ins Netz gestellte Zusammenfassung eines
entsprechenden Urteils des Bundesverfasssungsgerichts in Nr. 75, 79, 90.
„Belästigungen“ sind in Kauf zu nehmen.) Anders dürfte es zunächst bei dem
Thema Verbindungen des Öffentlichen Nahverkehrs sein. Betriebsabläufe genießen
einen indirekt auf andere Grundrechte gestützten Schutz.) Da diese Störungen
jedoch seit nunmehr vier Jahren
offensichtlich auch nach Auffassung der Stadtverwaltung hinzunehmen waren,
bleibt als wahrer Kern dieses Arguments dann doch wieder nur die Verlagerung
von Geschäftsumsätzen auf andere Tage. Dieser Umstand dürfte deswegen nach
meiner Einschätzung ebenfalls vor dem Demonstrationsrecht keinen Bestand haben.
Es geht der CDU also offensichtlich um einen Angriff auf das
Demonstrationsrecht und damit auf unsere Bewegung, was wir ja verstehen können.
Damit erhält jedoch auch unsere
persönliche Entscheidung pro oder contra Bahnhof eine ganz andere Bedeutung.
Wir stehen vor der Entscheidung: Überlassen wir die Verteidigung des Bahnhofs
als unseren aus propagandistischen Gründen bevorzugten Demoort und überlassen
wir damit die Verteidigung bzw. Respektierung des Demonstrationsrechts der
Stadtverwaltung bzw. dem Gericht und fügen wir uns damit dem Machtanspruch und
dem mit ihm verbundenen Demokratieverständnis der CDU?
Oder nutzen wir die Gelegenheit,
die uns CDU und Stadtverwaltung gerade bieten, die eigenen Reihen und die
Stuttgarter Bürgerschaft über Inhalt, Zweck und Bedeutung des
Demonstrationsrechts und des mit ihm verbundenen Rechts der Wahl des
Kundgebungsortes aufzuklären? Mein Vorschlag wäre, eine der noch folgenden zwei
vor Weihnachten stattfindenden Montagsdemos ganz ins Zeichen dieses Themas zu
stellen. Das Demonstrationsrecht ist ein Recht für Minderheiten, die
gemeinnützig Aufgaben und Verantwortung aller Bürger stellvertretend
wahrnehmen, auf Missstände und Fehlentwicklungen aufmerksam machen oder doch
wenigstens aufmerksam zu machen versuchen und deswegen, im Interesse auch der
Mehrheit, ein Rechtsprivileg genießen, nämlich auch das Recht zu „stören“, wie
Mandela und sein ANC das in Afrika getan haben.
Ich habe den Eindruck, dass
hinter dem Rückzug unserer Gruppen auf den Marktplatz auch ein Mangel an Selbstbewusstsein steckt.
Immer mehr meinen, unser Anliegen sei „in
der Öffentlichkeit nicht kommunizierbar“, so wie die Bürokratie unter
Oettinger von S21, allerdings zu recht, dachte. Aber: S21 war ja auch ein
Betrug historischen Ausmaßes, ganz besonders der betrügerische Finanzierungsvertrag, den einer der Betrüger, nämlich
die SPD nach wie vor schützt und den unser Protest bis heute ignorant
vollkommen ungeschoren lässt. Und wenn jemand von seiner Sache nicht mehr
wirklich überzeugt ist, dann hat er auch – moralisch gesehen - tatsächlich
keinen Anspruch mehr auf Demonstrationsfreiheit oder ihr volles Ausmaß.
Welch ein Bedarf an
selbstbewusster Aufklärung da tatsächlich besteht, demonstriert Holger Gayer in
einem Kommentar der Stuttgarter Zeitung vom 04.12.2013. Er und mit ihm die gesamte Politikerkaste des Landes haben
noch gar nicht verstanden oder wollen es nicht wahrhaben, worum es bei der
Auseinandersetzung um den Ort der Anti-S21-Demonstrationen wirklich geht. Er
meint, es gehe einerseits um die im Grundgesetz verankerte
Versammlungsfreiheit, so weit gut und recht, aber
„Auf der anderen Seite wird es höchste Zeit, dass die
Montagsdemonstranten akzeptieren, dass nicht nur die meisten Politiker in Stadt
und Land Stuttgart 21 befürworten, sondern auch die Mehrheit der Bürger dafür
gestimmt hat. Es ist daher ein legitimes Ansinnen der Majorität, die
wöchentlichen Kundgebungen der Minorität an einen Ort zu verlegen, der weniger
Verkehrsbehinderungen nach sich zieht.“
Gayer ist offensichtlich gar
nicht bewusst, dass er und die angeführten Politiker mit ihrer Auffassung nicht „auf dem Boden des Grundgesetzes
stehen“ und mit ihrer Propagierung eines angeblichen Mehrheitsrechts die
Stadtverwaltung zum Rechtsbruch drängen. Mal abgesehen davon, dass die Mehrheit
der abstimmungsberechtigten Bürger vor zwei Jahren nicht einmal zur
Volksabstimmung hingegangen ist, mal abgesehen auch davon, dass die Mehrheit
derer, die tatsächlich zur Abstimmung gegangen sind, mit einem Nein zum
Gesetzesvorschlag einer Kündigung des Finanzierungsvertrags gestimmt haben und
nicht mit einem Ja zum Projekt, mal ganz abgesehen auch von vielen anderen
ähnlichen Details wie z. B., dass, wer will, auch montagabends in die
Innenstadt gelangt, ohne am Bahnhof vorbei zu fahren, abgesehen von all dem gilt
vor allem eines:
Auch keine Volksabstimmung kann irgendein Grundrecht außer kraft
setzen!!! Und schon gar nicht das der
Freiheit der Meinung und ihres Ausdrucks. Auch Völker können irren, und das Volk
der Schwaben tuts gerade gewaltig. Jedenfalls bei S21. Die Bürger, die
Montagabend für Montagabend mit dem Finger auf ein gigantisches Betrugsprojekt
zeigen, gehen nichts anderem als einer ehrenamtlichen
und gemeinnützigen Tätigkeit nach.
Und für die Aufklärung über diese
Tatsachen wäre der Demonstrationsort vor oder
auch in dem Bahnhof geeignet wie kein anderer. Und das Recht dazu haben wir
– prinzipiell.
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