Sonntag, 3. Februar 2013

(4) Zur Lage und Taktik


Reinhart.Vowinckel@wb.de  Zur Lage und Taktik 4                                            03.02.2013
http://vowinckel.blogspot.com

Zum Umgang mit der Volksabstimmung und dem Finanzierungsvertrag

Holger Gayer wirft in der Stuttgarter Zeitung die Frage auf: „Gilt die Volksabstimmung noch?“ Meine Antwort ist einfach. Sie hat noch nie gegolten. Jedenfalls nicht im Sinne des Rechts, und das heißt nicht für uns alle. Um das zu wissen, braucht man nur die betreffende Aussage der Landesabstimmungsleiterin Friedrich bei Bekanntgabe des amtlichen Endergebnisses aufmerksam zur Kenntnis zu nehmen, man muss dazu nicht einmal Jura studiert haben:
 Nachdem die Gesetzesvorlage die nach der Landesverfassung erforderliche Stimmenmehrheit nicht erreicht hat, hat sich insoweit auch keine Änderung der Rechtslage ergeben.“ 
Da ist allerdings nicht nur  unsere Landesregierung anderer Meinung, die meines Wissens das Märchen von der „Geltung“ der VA in die Welt gesetzt hat,  sondern auch unsere Staatsanwaltschaft.  Von Redakteuren auf seinen harten Umgang mit Projektgegnern und einen vergleichsweise zarten Umgang mit Polizisten angesprochen, erklärte Oberstaatsanwalt Häußler laut Stuttgarter Nachrichten vom 18.12.2012: „Mit der Volksabstimmung ist für uns eine Änderung eingetreten. Das Volk hat entschieden, das Projekt war legitimiert. Die folgenden Blockaden betrachten wir daher als Verhinderungsblockaden.“ Damit  spricht er nicht nur für sich, sondern für das Kollegium der Staatsanwaltschaft („wir“). So werden ihre Grundrechte in Anspruch nehmende Projektgegner mit Rechtsbeugungen effektiver bekämpft. Geht doch! Und der Ministerpräsident (Grüne) wie der Justizminister (SPD) lassen grüßen. Das Märchen von der Gültigkeit der VA wirkte wie Gehirnwäsche, eine Zeit lang auch auf die Protestbewegung.

Nachdem am 12,12.12 um Zwölf vor Zwölf ein gewisser Herr Kefer für sein  Märchen vom  Tiefbahnhof für nix“ keine Zuhörer mehr fand; hielten vier Heilige der Protestbewegung für den Kopfbahnhof auch ihre Stunde für gekommen und verkündeten am dritten Weihnachtstag in einem Offenen Brief ihren Weihnachtswunsch:
Grüne Spitzenpolitiker müssen und können  jetzt S 21 stoppen!“. Diese Forderung fußt jedoch auf falschen Annahmen. Die Spitzenpolitiker der Protestbewegung schreiben in ihrer Begründung: „Die Grundlagen für die Volksabstimmung wurden einseitig verletzt – sie sind nicht mehr gegeben. Es gilt, was die Landesregierung in der Begründung ihres Gesetzestextes ‚über die Ausübung von Kündigungsrechten (…) bei Stuttgart 21’ schrieb: „Bei Kostensteigerungen, die nicht ‚in vollem Umfang von der Deutschen Bahn AG finanziert’ werden, sei dem Land ‚ein Festhalten an dem (S21) Vertrag nicht zumutbar und ein Kündigungsrecht nach § 60 Abs. 1 Landesverwaltungsverfahrensgesetz (IVwVfG) gegeben.“
Diese  Schlussfolgerung aus Kefers (noch vorläufigem) Offenbarungseid ist voreilig.

  1. Ohne die SPD können die Grünen in der Regierung gar nichts, die Grünen außerhalb jedoch viel.
  2. Das Land sollte der Bahn nicht vorgreifen. Das würde uns viel Geld kosten.
  3. Die „Grundlagen für die VA“, z. B. der von der Koalition als Ergänzung zum Vertrag verkündete Kostendeckel, spielen wie das Ergebnis der VA lediglich ein politische, eine propagandistische, nicht aber auch eine rechtliche Rolle (s. o. ).
  4. Die Berufung auf den genannten § 60 IVwVfG greift nicht. Bisher wurde nicht festgestellt, dass die Bahn Mehrkosten nicht zahlt oder eine Durchführung des Projekts aus einem anderen Grund  nicht zumutbar ist. Also mehr Geduld!

Da kann ich sogar den Ministerpräsidenten ein Stück weit verstehen. Ein ehemaliger Richter mit Namen Dieter Reicherter  weist ihn auf die Ungültigkeit der VA hin, während ihn andere Projektgegner auf die VA festgenageln wollen. Da kann man schon genervt sein. So stöhnte er gequält in einer Offenen Antwort an Walter Sittler als einen der vier Unterzeichner des zitierten Offenen Briefes:
Ich warne sogar davor, die Volksabstimmung erneut in Frage zu stellen…An dieses Votum ist die Landesregierung auch weiterhin gebunden, zwar nicht formal-juristisch, aber doch politisch.
Damit hat er auch die von Holger Gayer gestellte Frage, ob die VA noch gilt, beantwortet. Seine Antwort lautet: „Jein!“
Kretschmann versucht, die Protestbewegung in seinen Betrug hineinzuziehen oder sagen wir verbindlicher „einzubeziehen“, Betrug an wem auch immer. Also Vorsicht! Nicht nur wegen Häußler und Kollegen. Es handelt sich bei Kretschmanns angeblicher Verpflichtung nicht um eine Verpflichtung durch das Volk, sondern allenfalls um eine „Selbstverpflichtung“ der Regierung, und das auch noch pro Stuttgart 21! Und auch der Kostendeckel ist lediglich eine Absichtserklärung und kein verbindlicher Landtagsbeschluss oder Beschluss einer Volksabstimmung. Das gleiche Verpflichtungsspiel hätte Kretschmann am liebsten auch mit dem Filderdialüg getrieben. Da galt für ihn plötzlich für einen Moment auch kein Kostendeckel mehr, bis Winfried Hermann dem netten Onkel in die Parade fuhr.

Da stellen sich uns eher zwei weitere Fragen: Warum hält Kretschmann, der doch eigentlich ein Projektkritiker ist,  am  Märchen einer zusätzlichen Legitimation des Projekts durch die VA fest? Und warum meint er anscheinend, auch die Protestbewegung müsse daran ein Interesse haben?
Die Lösung des Widerspruchs liegt wohl in folgenden Umständen: Zum einen können die Grünen aus dem S21- ICE  nicht aussteigen, solange die SPD vor dem Ausstieg steht.
Noch wichtiger aber ist: Sowohl die SPD als auch die heutige Opposition von CDU und FDP waren vor und nach der VA als Befürworter des Projekts beeindruckt vom neuen Ministerpräsidenten. Obwohl ein Projektgegner,  bekannte der sich mit der ganzen ihm verliehenen Autorität „unmissverständlich“ zur „Verbindlichkeit“ der Mehrheitsentscheidung der VA pro S21. Was wollten sie mehr? Was konnten sie besser? Da schluckten sie in der Hoffnung auf die Beendigung der Proteste auch den Kostendeckel, an den sich alle beteiligten parlamentarischen Gremien, sogar der Gemeinderat,  seither halten. Dabei haben sie jedoch wohl unterschätzt, wie teuer der Kostendeckel noch einmal werden könnte, dass er nämlich auch den Finanzierungsvertrag und damit die rechtliche Grundlage des Projekts kosten könnte.  Die  Beibehaltung des im Grunde finanzierungsvertragswidrigen Kostendeckels würde das Projekt S21 für die kaufmännisch kalkulierende Bahn sinnlos werden lassen.
Damit ist aber auch die zweite neu entstandene Frage beantwortet, welches Interesse wir in den Augen Kretschmanns an der Legende von der Gültigkeit der VA haben.In seinem Offenen Brief an Sittler deutet er es an.
Wenn ihr die Volksabstimmung pro S21 in Frage stellt, stellt ihr auch die Selbstbindung der Befürworter (SPD, CDU, FDP) an den Kostendeckel in Frage. Er ist aber unser einziges Instrument, S21 doch noch zu Fall zu bringen, wenn nicht höhere politische Mächte in Berlin das noch verhindern.  Ihr eröffnet ihnen mit Eurer Aufforderung zum womöglich rechtswidrigen Ausstieg nur die Möglichkeit, aus ihrer aus Angst vor der VA geschluckten Verpflichtung zur Kostendeckelung auszusteigen.
Anders vermag ich die „väterliche“ Warnung Kretschmanns nicht zu verstehen, mit der er wohl die auch Führung der Protestbewegung zurückzuholen trachtet,

Was Kretschmann richtig sagt: Vertraglich kann die Bahn die Übernahme aller Planungskosten verlangen (Sprechklausel), denn ihr Job sind Planung und Beaufsichtigung der Ausführung des Projekts.  Oder sie kann,  wenn sich kein Finanzier für gestiegene Kosten findet, als Alternative auch den Weiterbau einfach stoppen und zuwarten, mit der Folge, dass „Bauruinen“ so lange herumstehen, bis die Projektpartner die weiteren Kosten in letztlich unbegrenzter Höhe „freiwillig“  berappen. Die „Partner“ der Bahn und das heißt die „Öffentlichen Hände“  sind also durch diesen Vertrag erpressbar. Der Finanzierungsvertrag ist in der Hand der Bahn ein Schraubstock, in den sie die öffentlichen Hände spannen kann.

Und das ist sie auch in der Hand von Befürwortern in der Regierung, was Kretschmann aber nicht öffentlich sagen kann. Und hier beginnt der Job der Protestbewegung.   Um diese Aufgabenteilung richtig zu verstehen, hilft  ein Blick in die Geschichte des Vertrages. Geplant war die Sprechklausel des Vertrags zumindest von der CDU-FDP-Landesregierung unter Oettinger und Mappus (damals Staatssekretär im Verkehrsministerium) sicherlich nicht als Instrument der Erpressung, sondern als Instrument der Verschleierung. Sie war ja bereit, für die Kosten, egal in welcher Höhe, aufzukommen und musste und konnte so auch  nicht erpresst werden. Die Regierung Oettinger/Mappus wollte vielmehr zweierlei. Einerseits wollte sie verhindern, dass die Bürger mitbekamen, was S21 wirklich kosten könnte und würde. Zum anderen wollte sie eine juristische Verpflichtung zur Kostendeckung haben, auf die sie sich jederzeit berufen konnte, wenn es wieder einmal „klemmen“ würde. Auf die Idee, dass die Regierung  vom Volk ausgewechselt werden könnte und die neue Regierung den Vertrag mit der Sprechklausel als Schraubstock erleben könnte, kam wohl damals noch niemand. 
Inzwischen ist also der Finanzierungsvertrag  objektiv zu einem Instrument der Erpressung und zwar der Grünen in der Regierung geworden.
Ich vermute jedoch mal, dass weder die Bahn noch CDU, FDP  und SPD öffentlich die Verantwortung für ein Instrument der  Erpressung des Landes oder auch der Stadt übernehmen wollen und können, zumal Wahlen anstehen. Also: Befreien wir das Land vom Finanzierungsvertrag!

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