Samstag, 10. Dezember 2016

Schmerzensgeldansprüche des Stuttgarter Polizeipräsidiums?

Die Stuttgarter Zeitung berichtete kürzlich von einem bizarren Nachspiel zum Drama vom Schwarzroten Donnerstag im Mittleren Stuttgarter Schlossgarten am 30.09.2010. Das Stuttgarter Polizeipräsidium hat sich demnach mit den verletzten Demonstranten getroffen, denen vom Verwaltungsgericht am 18.11.2015 wegen Rechtswidrigkeit des Wasserwerfereinsatzes vor fünf Jahren Anspruch auf ein Schmerzensgeld zugesprochen worden war. Dietrich Wagner, dem am schwersten Verletzten der Demonstranten, wurden demnach vom Land bzw. vom Polizeipräsidium 120.000 Euro angeboten. Davon soll jedoch die Hälfte abgezogen werden: 60.000 Euro – wegen „Mitschuld“! Er habe ja auch weggehen können. Also ein „Strafmandat“ über 60.000 Euro für die konsequente Wahrnehmung eines Grundrechts! Zur Linderung der mentalen Schmerzen der Polizei, die sie durch das Urteil des Verwaltungsgerichts erleidet? Bei dieser Posse gibt erneut die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts zu demonstrativen Verkehrsbehinderungen den tragischen Paten. 
 
1. Akt: Es ist der 09. November 1990, ein Jahrestag der „Reichspogromnacht“ im Jahr 1938, also des Beginns der offenen Verfolgung von Juden und „Zigeunern“ durch die Nationalsozialisten. Über 600 Sinti und Roma in Nordrheinwestfalen machen sich, nicht zufällig an diesem Tag, mit ihren Wohnwagen auf zu einem Demonstrationszug nach Genf. Sie wollen sich dort vor dem Gebäude des Flüchtlingshochkommissars der UNO versammeln. Alleiniger Zweck der gesamten Aktion ist, die westeuropäische Öffentlichkeit auf ihre Situation der Bedrohung mit Abschiebung aufmerksam zu machen. Noch nie vorher haben die sonst verstreut lebenden Familien zu einer derartigen Aktion zusammengefunden. Sie haben von Deutschen gelernt.
Vor dem Autobahngrenzübergang in die Schweiz wird der Zug gestoppt. Die Demonstrationsleitung führt Gespräche mit der Polizei und Schweizer Behörden über Ziel und Zweck ihrer ziemlich verzweifelten Aktion. Als diese zunächst erfolglos verlaufen, werden die Wohnwagen, Busse und PKW von den Roma und Sinti zu einer spontanen Blockade vor dem Autobahngrenzübergang zusammengezogen. Allerdings so, dass der nachfolgende Verkehr ohne Stau über einen nahegelegenen zweiten Grenzübergang umgeleitet werden kann. 
 
Die Polizei fordert die Demonstranten vergeblich zur Auflösung der Blockade auf. Sie berufen sich auf das Demonstrationsrecht. Sie wollen spontan nun eben die Blockade dazu nutzen, um auf sich und ihr Anliegen aufmerksam zu machen. Man einigt sich schließlich auf die ersatzweise Entsendung einer Delegation der Demonstranten nach Genf. Da man in der früh dunklen Novembernacht nicht mehr ausreichend Stellplätze gefunden hätte, wird die Blockade der verängstigten Menschen erst im Laufe des folgenden Tages Schritt für Schritt aufgelöst. Der Organisator wird vom Lörracher Amtsgericht erst zu einer Geldstrafe und später zu einer Haftstrafe verurteilt. Die Dauer der Blockade von mehr als 24 Stunden wird strafverschärfend bewertet. Eine gesetzlich vorgeschriebene Verfügung seitens der zuständigen Ordnungsbehörde, die Versammlung aufzulösen, hat es nicht gegeben, was aber später auch das Verfassungsgericht nicht interessieren wird.
 
2. Akt: Nachdem das Karlsruher Oberlandesgericht das Strafurteil des Lörracher Amtsgericht gegen den Präsidenten des Roma-Nationalkongresses Rudko Kawczynski durchgewinkt hat, gelangt dessen Grundrechtsbeschwerde vor das Verfassungsgericht. Am 24. Oktober des Jahres 2001 fällt dessen für den Schutz der Grundrechte zuständiger Erster Senat das Selbsthilfe-Urteil, auch als Roma-Urteil in die Rechtsgeschichte eingegangen. Auch er winkt das Lörracher Strafurteil durch mit der Begründung, die Nachweise, dass der Zweck der Aktion kommunikativer Art war, seien nicht hinreichend substantiiert“. Es habe sich vielmehr um eine „selbsthilfeähnliche“ Aktion zur Durchsetzung eigener Forderungen gehandelt, also um Selbstjustiz. Es hatte jedoch weder Gewalt noch Drohungen mit Gewalt, etwa zur Erzwingung des Grenzübertritts gegeben, sondern nur Zwang zur Verkehrsumleitung, also eine demonstrative Verkehrsbehinderung. Selbstverständlich haben die Flüchtlinge sich nicht eingebildet, etwas anderes, z.B. ein Bleiberecht erzwingen zu können. 
 
3. Akt: Am 30. September des Jahres 2010 lassen die Landesregierung und das für die Verfügung einer Versammlungsauflösung zuständige Stuttgarter Ordnungsamt das Stuttgarter Polizeipräsidium eine Machtdemonstration veranstalten, um durch Einschüchterung den Demonstrationen gegen S21 ein Ende zu machen, ohne dass eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und eine Auflösungsverfügung vorliegt. Dass der Vertreter der zuständigen Stuttgarter Behörde dem Polizeieinsatz zur Auflösung der Versammlung nur zuschaut und nicht zum Schutz der Versammlung und der Versammelten eingreift, dürfte wohl eine schwere, aber nicht strafbare Amtspflichtverletzung sein. 
 
4. Akt: Am 18. November des Jahre 2015, fünf Jahre nach der Tragödie im Schlossgarten, kommt es im Stuttgarter Verwaltungsgericht zu einer Komödie. Auf den ersten Blick stehen sich dort die Landesregierung in Gestalt ihres Rechtsvertreters und die verletzten Demonstranten gegenüber, die ein Schmerzensgeld verlangen, weil ihrer Überzeugung nach der Polizeieinsatz rechtswidrig war. In Wirklichkeit kämpft jedoch das Verfassungsgericht mit sich selbst. Das Land beruft sich zur Rechtfertigung seines Polizeieinsatzes auf das Roma-Urteil des achtköpfigen Ersten Senats im Jahr 2001 und die Gegenseite auf Entscheidungen der nur dreiköpfigen 1. Kammer des selben Ersten Senats in den Jahren 2004 und 2007 (vgl. 1 BvR 1726/01 am 26.10.2004 Abs.17, 18, 37 sowie 1 BvR 1090/06 vom 30.04.2007 Bergstedt). Vorsitzender bei allen genannten Entscheidungen ist der Gerichtspräsident und Vorsitzendes des Ersten Senats. Das Verwaltungsgericht stützt sich, sehr zum Verdruss der Landesregierungen, wie die Bußgeldposse des Polizeipräsidiums jetzt erneut zeigt, auf die Kammerentscheidungen und nicht auf die Senatsentscheidung.

In dem Kampf des Verfassungsgerichts mit sich selbst geht es um Folgendes. Mindestens so viel sollte jeder Bürger, der demonstriert, wissen, und eigentlich auch jeder Richter und Anwalt
 
Art, 8 des Grundgesetzes lautet: 
 
(1) Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln.“

Das bedeutet, eine friedliche und für niemanden bedrohliche politische Versammlung schafft um sich herum einen „staatsfreien“ öffentlichen Raum, weil politische Versammlungen als Beitrag zur demokratischen politischen Meinungs- und Willensbildung grundsätzlich gemeinnützig sind, unabhängig von den verfolgten Zielen. Nun gibt es jedoch auch noch einen zweiten Absatz in Art 8 GG. Er lautet:
(2) Für Versammlungen unter freiem Himmel kann dieses Recht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden.“

Diesen 2. Absatz versteht jedoch falsch, wer meint, jede Einschränkung durch Gesetz sei erlaubt, denn in Art. 19 GG heißt es bezogen auf alle Grundrechte: 
 
(2) In keinem Falle darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden.“

Deswegen gibt es seit dem Jahr 1953 auch für Versammlungen ein spezielles Verwaltungsfachgesetz im „Nebenstrafrecht“, das Versammlungsgesetz (VersG). Es formuliert mögliche Einschränkungen der Bürger und Einschränkungen der Staatsgewalten. Sein wohl wichtigster Paragraf ist § 15. In Absatz 1 heißt es dort: 
 
(1) Die zuständige Behörde kann die Versammlung oder den Aufzug verbieten oder von bestimmten Auflagen abhängig machen, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung oder des Aufzuges unmittelbar gefährdet ist.“

Das bedeutet erstens, die Polizei darf zwar Versammlungen auflösen, nicht aber eigenmächtig verbieten und auflösen. Verbieten darf Versammlungen in der Regel nur die zuständige Ordnungsbehörde bzw. das zuständige Verwaltungsgericht. Die Polizei hat erst dann ein Verbot bzw. einen Auflösungsbeschluss der Ordnungsbehörde zu vollziehen.
Das bedeutet zweitens, auch die „zuständige Behörde“ darf ein Verbot oder eine Versammlungsauflösung nur dann verfügen, wenn eine akute Gefährdung der öffentlichen Sicherheit vorliegt.
Leider hat sich auch der Erste Senat bis zum Jahr 2001 nicht darum gekümmert. Im Selbsthilfe-Urteil heißt es zu einer von der Polizei mit Bolzenschneidern beendeten Selbstankettungsaktion: 
 
Wegen der Rechtswidrigkeit des Verhaltens der Beschwerdeführerinnen durfte die zuständige Behörde die angebrachten Ketten zerschneiden und die Demonstranten aus der Zufahrt entfernen.“ (a. a. O. Abs. 52).

Auch der Senat hielt also offensichtlich die Polizei für die „zuständige Behörde“.

5. Akt (2. Posse) : Das Polizeipräsidium beansprucht nun von Dietrich Wagner 60.000 Euro als eine Art „Schmerzensgeld“ für die Niederlagen, die dem Polizeipräsidium zugefügt wurden. Dazu ein Zitat aus einer der bereits genannten Entscheidungen der 1. Kammer des Ersten Senats:
Die Gerichte haben den Verstoß gegen Art. 8 GG durch die strafrechtliche Sanktion für ein Verhalten des Beschwerdeführers, der sich der Entfernung aus der Versammlung widersetzte, fortgesetzt.“ (1 BvR 1090/06 vom 30.04.2007 Bergstedt Abs. 51)
Es darf also niemand für eine nicht mit Gewalttätigkeit begangene Widersetzlichkeit gegen eine rechtswidrige Versammlungsauflösung durch die Polizei bestraft werden, auch nicht durch die Polizei. Die Kröte werden Politik und Polizei wohl noch schlucken müssen - im Dienste der Demokratie. Dann sind demonstrative Verkehrsbehinderungen nicht mehr nach fünf Minuten vorbei und um ihren Aufmerksamkeitseffekt gebracht. 
 

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