Sitzblockaden
V – Überpositives Recht: „Alle Staatsgewalt geht von Gott aus!“
Politisches
Testament eines 68ers
V.
i. S. d. P. : Reinhart Vowinckel Stuttgart, 10.
März 2018
Agenda:
Hilfe von außen tut not
1.
Absichtliche demonstrative, also symbolische, und friedliche, d.
h. nicht gewalttätige Verkehrs-be-hinderungen
und nicht Ver-hinderungen mit dem alleinigen
Zweck der Erregung öffentlicher Aufmerksamkeit für politische
Anliegen stehen prinzipiell unter dem Schutz des Grundrechts der
Versammlungsfreiheit und damit auch unter dem Schutz des
Versammlungsgesetzes nach dessen Paragraphen 15. Ohne entsprechenden
Beschluss der zuständigen Verwaltungsbehörde sind Auflösungen
solcher Demonstrationen und die Bestrafung der Teilnahme an ihnen
rechtswidrig.
2.
Die Rechtsprechung des
Bundesgerichtshofs wie die des Bundesverfassungsgerichts zu solchen
Verkehrsbehinderungen als angeblich verwerflichen Nötigungen und als
angebliche Selbstjustiz (unerlaubte Selbsthilfe) widerspricht den
Grundgesetzartikeln Art. 1 (Unmittelbare Geltung von Grundrechten),
Art. 3 (Gleichberechtigung politischer Anschauungen), Art. 5 (freie
Meinungsäußerung), Art. 8 (Versammlungsfreiheit), Art. 19
(Wesensgehaltsgarantie für Grundrechte) und insbesondere Art. 103,2
(Rückwirkungsverbot und Bestimmtheitsgebot) und ähnelt als Willkür
selbst der nicht erlaubten Selbsthilfe, allerdings ‚von oben‘.
3.
Mit seiner Entscheidung im sog. Mutlangen-Urteil, der § 240 StGB
entspreche dem Bestimmtheitsgebot nach GG Art. 103, Absatz 2, hat der
Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts dieses elementare
Verfassungsgebot de facto außer Kraft gesetzt. Damit hat er eine
Säule eines jeden freiheitlichen und demokratischen Rechtsstaats
schwerstens beschädigt oder sogar beseitigt. So hat er nicht nur die
Rechtssicherheit, sondern auch das Prinzip der Gewaltenteilung auf
Kosten des Rechtsgestaltungsrechts und der Rechtsgestaltungspflicht
des Bundestages als Vertretung der Bürger untergraben.
4.
Die Formel „als verwerflich anzusehen ist“ in
§ 240 StGB,
ursprünglicher Wortlaut: „dem gesunden Volksempfinden
widerspricht“ oder die
Berufung des Verfassungsgerichts auf die „allgemeine
Gerechtigkeitserwartung“ in
seiner Entscheidung zur lebenslänglichen Gefängnisstrafe bedeuten
die populistische Berufung
auf ungeschriebenes, also unbestimmtes, sogenanntes „überpositives“
Recht. Die
Berufung auf „überpositives Recht“ richtet sich gegen das
Prinzip der Volkssouveränität nach Art. 20 GG: „Alle
Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ Sie
widerspricht den Beschlüssen des Verfassungsgebers und
ist in ihrem Kern nicht nur verrfassungswidrig, sondern
verfassungsfeindlich. Damit eröffnet sie im
Prinzip das Recht zum Widerstand nach GG Art. 20,4, also auch
das Recht zu „zivilem Ungehorsam“.
5.
Wegen der sog. Unabhängigkeit der Rechtsprechung und der
institutionellen Unangreifbarkeit insbesondere des
Verfassungsgerichts ist von der Obrigkeit kaum Hilfe zu erwarten. Nur
der öffentliche und transparente Diskurs über
die Verfassung, die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts, die
Institution des Verfassungsgerichts und die Auswahl der Richter durch
Bundestag und Bundesrat vermag Abhilfe zu schaffen.
Zu
den Zitaten und benutzten Quellen
Neben
den hier analysierten, im Internet frei zugänglichen Entscheidungen
unserer obersten Gerichte Bundesgerichtshof und
Bundesverwaltungsgericht, vor allem aber des
Bundesverfassungsgerichts, und vielen Beiträgen der
Wissensenzyklopädie WIKIPEDIA stütze ich mich vor allem auf
drei in Buchform vorliegende Quellen. Das ist zum einen die unendlich
hilfreiche, im Jahr 2014 in 2. Auflage erschienene Studie „Furchtbare
Juristen – Die unbewältigte Vergangenheit der
deutschen Justiz“ des Strafrechtslehrers Ingo Müller (ISBN
978-3-89320-179-2). Zum zweiten ist das die vom
Bundesjustizministerium in Auftrag gegebene und im Jahr 2016
erschienene Studie zum selben Gegenstand „Die Akte
Rosenburg“, verantwortet von den Professoren Manfred
Görtemaker und Christoph Safferling (ISBN 9783406697685). Zum
dritten stützte ich mich bei den Zitaten zu Luther im Zweiten
Hauptteil der Studie auf „Martin Luther Das
große Lesebuch“, herausgegeben im Jahr 2016 von Karl-Heinz
Göttert, ISBN 978-3-596-90636-9). Lediglich Luthers „Heerpredigten
wider den Türken“, die nicht zu den von Göttert in modernes
Deutsch übertragenen Texten gehören, habe ich für Zitatzwecke
selbst „übersetzt“.
Zitate
oder Zitate in Zitaten werden von mir kursiv gesetzt und meistens
zusätzlich eingerahmt. Zu der zitierten Literatur führt jeweils
mindestens einmal die ISBN-Nummer und zu den behandelten und
zitierten Urteilen der Gerichte führt jeweils mindestens einmal ein
Link.
Mein
„Politisches Testament“
ist in zwei Hauptteile
gegliedert.
1.
Teil: RICHTERLICHE WILLKÜR – Zur Auseinandersetzung mit
der Rechtsprechung zum Versammlungsrecht, insbesondere der
Kriminalisierung von Sitzdemonstrationen. Dieser Teil mag
insbesondere für juristische oder auch politologische Laien schnell
ermüdend und schwer verdaulich sein. Das ließ sich leider nicht
vermeiden, denn er richtet sich auch an unsere Juristen. Auch viele
Juristen werden genug Probleme damit haben, weil sie im Studium ganz
anderes gelernt haben. Um den ersten Teil nachhaltig zu verstehen,
wird man ihn wohl mindestens dreimal lesen müssen, und wer macht das
schon? Ich weiß, ich weiß. Für‘s erste reicht aber vielleicht
auch ein ‚Überfliegen‘.
2.
Teil: JUSTIZ UND RELIGION – Luther und das
christliche „Naturrecht“ – Zu den religionsgeschichtlichen
Hintergründen unserer Justiz als Versuch der Erklärung, warum
anscheinend besonders christliche Juristen meinen, sich im Dienste
„überpositiven“ Rechts über Recht und Gesetz und auch über
Vernunft und Wahrheit hinwegsetzen zu dürfen.
ERSTER
HAUPTTEIL: RICHTERLICHE WILLKÜR
(1)
Zur Vorgeschichte der Justiz der Bundesrepublik
„Hat
Konrad Adenauer Carlo Schmid gelesen oder ist Carlo Schmid bei Konrad
Adenauer in die Schule gegangen? Als Ursache der deutschen Malaise
hatte Adenauer beklagt, das deutsche Volk habe «den
Staat zum Götzen gemacht und auf den Altar erhoben: die
Einzelperson, ihre Würde und ihren Wert hatte es diesem Götzen
geopfert».“(Christian
Bommarius: Das Grundgesetz – Eine
Biographie, ISBN 9783871345630,
S.117/118)
Die
Deutschen hatten in den Augen der beiden im Zitat genannten
Gründungsväter der Republik aus dem Staat ihren Gott oder einen
„Götzen“ gemacht. Dem, was Adenauer, der erste Bundeskanzler der
Bundesrepublik Deutschland, damit gemeint haben könnte, soll hier
nachgegangen werden.
Die
Funktionselite Deutsche Justiz war 1949 ‚braun‘ und zugleich
christlich. Dass nur sehr wenige Juristen sich der Nazidiktatur
widersetzt oder wenigstens entzogen hatten, statt ihr zu dienen, ist
mit der Entstehung der modernen Justiz in der Zeit Bismarcks, also
nach dem deutsch-französischen Krieg und der Gründung des
nationalistischen Zweiten Deutschen Kaiserreichs im Jahr 1871 zu
erklären. Errungenschaften der 1848er-Revolution, die auch von
zahlreichen freiheitlich denkenden Juristen unterstützt worden war,
waren wieder verloren gegangen, z. B. die Selbstverständlichkeit der
Respektierung einer parlamentarischen Opposition gegenüber der
Regierung, die nicht gleich als „Vaterlandsverräter und „innerer
Feind“ gesehen und bekämpft wurde.
Die
Justizpolitik Bismarcks hatte darauf abgezielt, dass
nur Sprösslinge des wohlhabenden Bürgertums sich die Ausbildung zum
Juristen leisten konnten. Ideal der Juristen war dabei der
Feudaladel, der Aufstieg in den Adel das Ziel höchster Träume. Das
‚ritterliche‘ Denken der Kaste deutscher Richter wurde
systematisch antidemokratisch und antisozialistisch, also
antisozialdemokratisch geformt. Einer der Sprecher der
monarchistischen deutschen Richterschaft, der Senatspräsident Max
Reichert, verkündete vor dem Ersten Weltkrieg: „Was
die Wehrmacht nach außen ist, das muss die Rechtsprechung nach innen
sein.“ (zit. nach Ingo Müller, a. a. O. S. 16),
also gegen den „inneren Feind“.
Die
so geformte Richterschaft war durch den Verlust ihres Kaisers im Jahr
1918 und die parlamentarische Mitsprache der Sozialdemokraten in der
nachfolgenden Weimarer Republik verständlicher Weise zutiefst
frustriert, und dann passierte ihr mit dem Verlust des „Führers“
im Jahr 1945 dasselbe noch einmal. Das wollte erst einmal verarbeitet
sein.
(2)
„Kopernikanische Wende“ weg von der
„Vergötzung“ des Staates
Dazu
blieb jedoch eigentlich keine Zeit. Mit der Gründung der
Bundesrepublik im Jahr 1949 trat auch das Grundgesetz in Kraft, und
im Jahr 1951 wurde das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe
gegründet. Christian
Bommarius, Jurist und lange Zeit Korrespondent der Deutschen
Presseagentur (DPA)
in Karlsruhe, dem Sitz eines
Oberlandesgerichts, des
Bundesgerichtshofs, des Generalbundesanwalts und des
Bundesverfassungsgerichts, spricht
von
einer
„kopernikanischen
Wende“ im
Staatsrecht, die mit der Erarbeitung und Verabschiedung zunächst
von Länderverfassungen und dann des
Grundgesetzes in den Jahren
1947 bis 1949 stattgefunden
habe.
Damit
meint er vor allem zwei Dinge, zum einen
die Verankerung der
Grundrechte in der Verfassung als „unmittelbar
geltendes Recht“,
nicht
aufhebbares und nicht verlierbares Recht.
In
Art. 1,3 GG heißt
es:
„(3)
Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende
Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes
Recht.“
und
zum anderen die
Gründung eines Verfassungsgerichts mit der äußerst delikaten
Aufgabe, über die Respektierung der Grundrechte als Schutzrechte
gegenüber dem Staat
zugleich durch den
Staat zu wachen.
Zur
neuen ‚überstaatlichen‘
Geltung der Grundrechte stellt
Bommarius fest:
„Noch
die Weimarer Verfassung hat die Grundrechte als freiwillig gewährte
Angebote des Staates betrachtet, auf die die Bürger keinen Anspruch
hatten und die jederzeit widerrufen werden konnten.“ (a.
a. O. S. 118) „Dass
der Staat künftig der Freiheit seiner Bürger
zu dienen habe und nicht umgekehrt der Bürger
der Sicherheit des Staates, verpflichtete diesen
auf eine ungewohnte Rolle, die er offensichtlich erst noch üben
musste.“ (Bommarius
S. 125)
(3)
Das antiautoritäre Grundrecht der Versammlungsfreiheit
In
Art. 8 GG heißt es:
(1)
Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis
friedlich und ohne Waffen zu versammeln.
(2)
Für Versammlungen unter freiem Himmel kann dieses Recht durch Gesetz
oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden.
Bürger
bedürfen also für Versammlungen oder Umzüge im öffentlichen Raum
ausdrücklich keiner staatlichen, also behördlichen, polizeilichen
oder gerichtlichen Erlaubnis und Kontrolle. Im Brokdorf-Urteil
sprach der Erste Senat des Verfassungsgerichts von Versammlungen als
einem „staatsfreien“ Raum:
„Als
Abwehrrecht
[gegenüber
dem Staat],
das auch und vor allem andersdenkenden Minderheiten zugute kommt,
gewährleistet Art. 8 GG den Grundrechtsträgern das
Selbstbestimmungsrecht über Ort,
Zeitpunkt, Art und Inhalt
der Veranstaltung und untersagt zugleich staatlichen Zwang, an einer
öffentlichen Versammlung teilzunehmen oder ihr fernzubleiben. Schon
in diesem Sinne gebührt
dem Grundrecht
in einem freiheitlichen Staatswesen ein
besonderer
Rang“.
(Brokdorf-Urteil
Abs. 62 –
http://www.servat.unibe.ch/dfr/bv069315.htm)
Demonstrieren
ist nicht verwerflich, sondern ein gemeinnütziger Akt im Dienste der
Demokratie. Mit andern Worten: Das Recht auf Leben und
Unversehrtheit, auf Schutz der Würde und der Ehre, der Schutz des
Eigentums sind sicherlich gleichrangig mit dem Versammlungsrecht,
nicht aber das Recht von Fahrzeugführern, stets geradeaus fahren zu
dürfen. Die Straßen gehören allen Bürgern, Demonstranten wie
Fahrzeugführern.
Das
ist jedoch nicht nur zu vielen Bürgern und vor allem Politikern
nicht klar, sondern auch Verfassungsrichtern. Sie fühlen sich oft
insbesondere durch demonstrativ friedliche Sitz-demonstrationen
besonders provoziert. Ihr ‚Bauchgefühl‘ sagt ihnen, das dürfen
‚die‘ nicht, und dann suchen sie nach Gründen.
Warum
insbesondere Politiker und viele Richter auf absichtliche
demonstrative Verkehrs-behinderungen ausgesprochen allergisch
reagieren, auch das hat das Verfassungsgericht im Brokdorf-Urteil
herausgearbeitet:
"«[Versammlungen]
bieten ... die Möglichkeit zur öffentlichen Einflußnahme
auf den politischen Prozeß, zur Entwicklung pluralistischer
Initiativen und Alternativen oder auch zu Kritik und Protest ...; sie
enthalten ein Stück ursprünglich-ungebändigter
unmittelbarer Demokratie, das geeignet ist, den
politischen Betrieb vor Erstarrung in geschäftiger Routine zu
bewahren».“ (Brokdorf-Urteil
Abs. 67)
Mit
diesem Zitat aus der Rechtsliteratur legte der Erste Senat des
Verfassungsgerichts wie mit einem chirurgischen Schnitt den Nerv der
Auseinandersetzung bloß, um die es hier geht. Versammlungen
allgemein enthalten ein Moment „ursprünglich-ungebändigter
unmittelbarer Demokratie“, und
das gilt in noch gesteigertem
Maße für absichtliche
demonstrative, d. h.
symbolische Verkehrsbehinderungen.
Für
autoritäre Figuren
im politischen Spiel und
sog. Funktionseliten, die nichts von unmittelbarer Demokratie wie
Volksabstimmungen halten,
bedeuten demonstrative Verkehrsbehinderungen Anarchie,
und Anarchie ist für sie
bedrohlich, ist ‚Chaos‘
oder ‚Bürgerkrieg‘.
Anarchie bedeutet jedoch
nicht Unordnung,
sondern
„ohne Herrschaft“,
also ohne Kontrolle
von oben. Demonstrationen, insbesondere meist
‚träge‘ Massendemonstrationen
oder auch ‚flexible‘
demonstrative
Verkehrsbehinderungen wie
Sitzblockaden sind jedoch von
den Organisatoren und Teilnehmern hoch
organisierte Veranstaltungen, nur organisiert eben
nicht von oben, sondern
demokratisch von unten. Die Gegner demokratischer Selbstorganisation
trauen und vertrauen
dem Bürger nicht, weil ‚der
Bürger‘ kein ‚guter‘ Mensch ist - wie sie selbst,
sondern nur ein Mensch, den
sie führen müssen.
Deswegen
ist es auch elitären
Politikern gelungen, in
das im Ganzen gelungene
Versammlungsgesetz z.
B. die eindeutig
verfassungswidrige
Verpflichtung zur Anmeldungen
von Versammlungen (§ 14 VersG)
einzubauen
(s. u.).
(4)
Gesetzliche Grenzen der Versammlungsfreiheit
Es
gibt jedoch auch eine wichtige nicht nur gesetzliche, sondern auch
grundgesetzliche Grenze des Versammlungsrechts.
Schon im ersten Satz von Art. 8
des Grundgesetzes (s. o.) heißt
es, Versammlungen und Umzüge müssen „friedlich“,
das heißt ohne Gefährdung der öffentlichen Sicherheit bleiben.
Dazu wurde im zweiten Absatz von Art. 8 GG dem Staat, das heißt dem
Gesetzgeber, das Recht eingeräumt, in bestimmten Situationen und in
begrenztem Ausmaß das Versammlungsrecht einzuschränken, und zwar
„durch Gesetz“ oder „auf
Grund eines Gesetzes“ (s. o.).
Der
Bundestag hat sich 1953 dazu
entschieden,
das Versammlungsrecht nicht auf Grund anderer Gesetze einzuschränken,
sondern durch ein eigenes Versammlungsgesetz, das
auch Strafbestimmungen enthält.
Im wichtigsten Paragraphen
15 VersG
heißt es:
„Die
zuständige Behörde kann die Versammlung oder den Aufzug verbieten
oder von bestimmten Auflagen abhängig machen, wenn … die
öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der
Versammlung oder des Aufzuges unmittelbar gefährdet ist. ...“
Eine
Versammlung verbieten lässt sich also nach dem Versammlungsgesetz
1. nur bei einer Gefährdung der öffentlichen Sicherheit (oder
Ordnung – s. u.) und 2. durch die für Ordnung und
Sicherheit zuständige Verwaltungsbehörde. Der Hinweis auf die
öffentliche Ordnung, also auf „ungeschriebenes Recht“,
ist jedoch grundrechtswidrig, wie schon im Brokdorf-Urteil
richtig festgestellt und z. B. im Heiligendamm noch einmal bestätigt
wurde:
„Die
bloße Gefährdung der öffentlichen Ordnung kann ein
Versammlungsverbot jedoch grundsätzlich nicht rechtfertigen“.
(BVerfGE 69, 315 zum GA-Gipfel Heiligendamm Abs. 26)
Trotzdem
ließ das Verfassungsgericht das Versammlungsgesetz seltsamer Weise
auch in Punkt „öffentliche Ordnung“ unangetastet.
Noch heute zitiert es
selbst § 15 VersG in der alten Fassung. Die Folge ist
Rechtsverwirrung.
Fest
steht jedoch unbestreitbar, Versammlungen und Umzüge dürfen nicht
bedrohlich und gewalttätig sein, sonst stehen sie nicht unter dem
Schutz des Grundrechts.
(5)
Das
Versammlungsgesetz – Mechanismus der Verhältnismäßigkeit
Trotz
angedeuteter Mängel
stellt das komplexe
Versammlungsgesetz einen
im wesentlichen gelungenen Mechanismus des Ausgleichs
von Interessen dar.
Es enthält
Verwaltungsvorschriften für den Staat und –
teilweise strafbewehrte –
Vorschriften für Demonstranten. Es
soll für Verhältnismäßigkeit
im Umgang zwischen Staatsorganen, Demonstranten und von
Demonstrationen betroffenen Dritten sorgen.
Seine
für den Mechanismus wichtigsten Paragraphen sind die §§ 13 und 15,
die hier noch einmal gekürzt dargestellt werden sollen. Sie
schränken vor allem die Rechte der Polizei gegenüber Demonstranten
erheblich ein, damit Verbote nur als ultima ratio, als im Notfall
vorgenommen werden:
§
13 VersG
„(1)
Die Polizei (§ 12) kann
die Versammlung nur dann und unter Angabe des Grundes auflösen,
wenn 1. ... das
Verbot
durch die zuständige Verwaltungsbehörde festgestellt worden ist,
2.
die
Versammlung einen gewalttätigen oder aufrührerischen Verlauf nimmt
oder unmittelbare Gefahr für Leben und Gesundheit der Teilnehmer
besteht ...“
§
15 VersG
„(1)
Die zuständige Behörde kann die Versammlung oder den Aufzug
verbieten oder von bestimmten Auflagen abhängig machen, wenn nach
den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die
öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der
Versammlung oder des Aufzuges unmittelbar gefährdet ist. ...“
Das
bedeutet, die Polizei ist der „zuständigen Behörde“
untergeordnet. Sie darf eine Versammlung erst auflösen, wenn „das
Verbot durch die
zuständige Verwaltungsbehörde festgestellt worden ist“, und
das kann nur geschehen, wenn „die
Versammlung einen gewalttätigen oder aufrührerischen Verlauf nimmt
oder unmittelbare Gefahr für Leben und Gesundheit der Teilnehmer
besteht“. Bei
demonstrativ friedlichen Verkehrsbehinderungen bestehen jedoch in
keinem Fall die hier
genannten gesetzlich
vorgesehenen Voraussetzungen für eine Auflösung bzw.
ein Verbot.
Diese
gesetzliche Regelung wird jedoch vom Bundesgerichtshof, gestützt auf
das Nötigungsgesetz § 240 StGB (s. u.), bis heute nicht
respektiert, und das Verfassungsgericht ließ ihn bis heute
weitestgehend gewähren (s. u.).
Dafür
trägt auch die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts
(BVerwG) als oberstes Fachgericht für
Verwaltungsfragen bis zu
einem Urteil im Jahr 1967 erhebliche
Mitverantwortung. Erst im Jahr 1989 stellte
es im Widerspruch zu seiner
früheren Rechtsprechung Folgendes
fest:
„Im
Unterschied zur Ansammlung
wird eine Versammlung
dadurch charakterisiert, daß eine Personenmehrheit durch
einen gemeinsamen Zweck innerlich verbunden ist
(vgl. etwa Herzog
in Maunz/Dürig/Herzog,
GG Bd. I, Stand 1987 …“)
Die
§§ 14, 15 VersammlG bilden ein in sich geschlossenes und
abschließendes Regelungswerk,
mit dem sichergestellt wird, daß die zur Wahrung der öffentlichen
Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung oder des
Aufzugs notwendigen Maßnahmen getroffen werden können. … Die
Anforderungen des Straßenverkehrsrechts bilden einen geradezu
typischen Konfliktsbereich im Spannungsfeld Versammlungsfreiheit –
öffentliche Sicherheit. Der Ausgleich zwischen der
verfassungsrechtlich gewährleisteten Versammlungsfreiheit und der
öffentlichen Sicherheit oder Ordnung soll nach den Vorstellungen des
Gesetzgebers nicht im Rahmen eines vorgeschalteten
Erlaubnisverfahrens, sondern allein
nach Maßgabe des § 15 VersammlG
erfolgen. Eine straßenverkehrsrechtliche Erlaubnispflicht würde
sich demgegenüber als ein unzulässiger gezielter Eingriff in das
Versammlungsrecht darstellen und wird deshalb von der
Ausschlußwirkung
der
Vorschriften des Versammlungsgesetzes
erfaßt
… .“
(BVerwGE
vom
21. April 1989 –
Akt: 7 C 50/88
Abs.
2
-http://www.saarheim.de/Entscheidungen/BVerwG%20-%207%20C%2050aus88.htm
Durch
das Versammlungsgesetz wird also, entgegen weiteren Einschränkungen
„aufgrund eines Gesetzes“
(s. o.) wie
z. B. des Nötigungsgesetzes, eine
Sperr- oder Ausschlusswirkung
ausgeübt. Damit wird auch klar erkenntlich, warum der BGH sich nicht
auf das Versammlungsgesetz stützt. Das Versammlungsgesetz formuliert
sozusagen einen Mechanismus
der Verhältnismäßigkeit
im Umgang mit Versammlungen. Nur als ultima ratio, als
letztes
Mittel sollte das
Grundrecht eingeschränkt werden dürfen
und nicht willkürlich
nach irgendeinem anderen Gesetz bzw.
einem
gegen direkte Demokratie
und ‚Anarchisten‘ gerichteten richterlichen
‚Bauchgefühl‘ der
„Verwerflichkeit“.
Gerade
an der
bereits genannten Entscheidung
des Bundesverwaltungsgerichts im Jahr 1967, also noch zur Zeit der
antiautoritären Studentenbewegung und
der „Außerparlamentarischen
Opposition“
ist
der
tiefere, kluge
Sinn
des ‚Mechanismus der
Verhältnismäßigkeit‘ gut zu erkennen. Sie zeigt, was dabei
herauskommt, wenn er nicht er nicht beachtet wird. Ein
örtlicher
polizeilicher
Vollzugsdienst ist von der komplexen Aufgabe in
aller Regel überfordert.
In
jener
Entscheidung ging es um
die
Auflösung einer
Versammlung mit
zwischen
fünf und 12 Teilnehmern.
Die
Plakate mit sich trugen,
auf einem großen, leeren
Platz vor dem amerikanischen Generalkonsulat in Bremen durch
eine Polizeistreife.
Es
handelte sich also keineswegs um eine unübersichtliche
Massendemonstration. Die
Begründung des Strafurteils des
Bremer Oberverwaltungsgerichts (Bußgeld)
hatte
sich
auf
die Tatsache gestützt,
dass die Versammlung nicht
angemeldet gewesen
war,
also auf die §§ 14 und 26, Abs. 2 des Versammlungsgesetzes.
Im
Urteil
des Bremer
OVG
hatte es zur
Rechtfertigung der Auflösung durch
eine Polizeistreife geheißen:
„Der
Beamte habe in jenem Augenblick nicht Ruhe und Zeit gehabt,
langwierige Untersuchungen durchzuführen und tiefgründige,
wohlabgewogene Überlegungen anzustellen; er habe vielmehr handeln
müssen. An seine Ermessensentscheidung dürfe deshalb kein sehr
strenger Maßstab angelegt werden. Die Veranstalter öffentlicher
Versammlungen unter freiem Himmel könnten durch vorherige Anmeldung
einem solchen Risiko leicht entgehen.“ „Nach
§
15 Abs. 2 VersG
könne die Polizei eine öffentliche Versammlung unter freiem Himmel
auflösen, wenn diese nicht angemeldet sei (§
14 VersG).(a.
a. O. Abs.
10)
„… Solche
Versammlungen bringen, wie das Berufungsgericht zutreffend dargelegt
hat, wegen der Unbegrenztheit der Teilnehmerzahl und ihrer
massensuggestiven
Wirkung die Gefahr einer Störung der öffentlichen Sicherheit und
Ordnung mit
sich.“(a.
a. O. Abs. 12 -
https://www.jurion.de/urteile/bverwg/1967-01-31/bverwg-i-c-9864)
Genau
an solche Situationen dürfte der Gesetzgeber im Jahr 1953 gedacht
haben. Ein polizeilicher Vollzugsdienst ist bei der sensiblen Materie
mit einer
derart weitreichenden Entscheidung wie dem Verbot einer Versammlung
überfordert. Und
wenn dann ebenso überforderte
Gerichte die Entscheidungen der Polizei auch noch einfach durchwinken, ist für das Versammlungsrecht ‚alles zu spät‘.
Gerichte die Entscheidungen der Polizei auch noch einfach durchwinken, ist für das Versammlungsrecht ‚alles zu spät‘.
Deswegen
war es einst eine
weise Entscheidung, zum Schutz des Versammlungsrechts als
„Abwehrrecht“ (s.
o.) gegenüber dem Staat ein eigenes Gesetz zur Installation eines
‚Mechanismus‘ der Verhältnismäßigkeit zu schaffen.
Dieser
‚Mechanismus der Verhältnismäßigkeit‘ vor allem staatlichen
Handelns im Umgang mit politischen
Versammlungen „unter
freiem Himmel“, d. h. im
öffentlichen Raum, und mit
politischen Demonstrationen wurde jedoch Ende der 60er Jahre
zumindest für eine bestimmte Form der Demonstration, die der
demonstrativen Verkehrsbehinderung, unter
völliger Missachtung des Rückwirkungsverbots nach Art. 103 (s. u.)
durch einen Mechanismus der
Strafbarkeit ausgehebelt.
(6)
Das
Psychoterror-Urteil
des
BGH 1969:
Mechanismus
der Willkür
Im
Jahr 1969 schuf der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs unter
Vorsitz von Paul-Heinz Baldus in Abstimmung mit dem
Generalbundesanwalt Martin
und damit der Bundesregierung mit seiner Entscheidung vom 08. August
1969 praktisch unter Umgehung des Gesetzgebers sozusagen
ein neues
‚Staatsschutzgesetz‘.
Zwei Jahre später musste
Baldus den ‚Hut nehmen‘. Seine Vergangenheit in der
Präsidialkanzlei des „Führers“ war aufgeflogen.
Verkehrsbehinderungen
zu Demonstrationszwecken wurden fortan
nicht mehr als
Ordnungswidrigkeiten
behandelt wie sonstige absichtliche Verkehrsbehinderungen, sondern
als kriminelle, ehrlose
Akte.
Nur einen Monat zuvor, am 16. Juli 1969, hatte das
Bundesverfassungsgericht in einer Entscheidung zu einem neuen Gesetz
für Ordnungswidrigkeiten den
Unterschied zwischen einer „Geldbuße“ (Bußgeld) und einer
„Geldstrafe“erklärt:
„Zwar
wirken sich die Geldstrafe und die Geldbuße
[Bußgeld] finanziell
gleichermaßen nachteilig für den Betroffenen aus. Sie unterscheiden
sich jedoch dadurch, daß nach allgemeiner Anschauung mit der
Verhängung einer Kriminalstrafe ein ehrenrühriges,
autoritatives Unwerturteil über eine Verhaltensweise des
Täters, der Vorwurf einer Auflehnung gegen die
Rechtsordnung und die Feststellung der Berechtigung dieses
Vorwurfs verbunden sind.
Demgegenüber
wird die an eine Ordnungswidrigkeit geknüpfte Geldbuße
lediglich als eine nachdrückliche Pflichtenmahnung
angesehen und empfunden, die keine ins Gewicht fallende
Beeinträchtigung des Ansehens und des Leumundes des Betroffenen zur
Folge hat, mag sie dessen Vermögen auch ebenso stark belasten wie
eine vergleichbare Geldstrafe. Ihr fehlt der Ernst der staatlichen
Strafe“.
(http://www.servat.unibe.ch/dfr/bv027018.html
OWi-Urteil
BVerfGE 16.07.1969 Abs.
46)
Damit
wurden Bürger, die sich durch Zivilcourage in
Form der Inanspruchnahme und Ausübung
des Grundrechts der Versammlungsfreiheit und
damit durch besonderes
Engagement für Demokratie und Rechtsstaat auszeichneten,
in obrigkeitlicher
„Selbsthilfe“ (vgl. §
229 BGB) aus der
Gemeinschaft der „anständigen“
Bürger ausgegrenzt.
Die Verteidigung der
Rechtsordnung wurde also vom Bundesgerichtshof in einem Willkürakt
zur „Auflehnung gegen
die Rechtsordnung“
aufgebauscht.
Das geschah folgendermaßen. Die
beiden wichtigsten der insgesamt sieben Leitsätze des Urteils
lauteten:
„5.
Mit Gewalt nötigt, wer psychischen Zwang ausübt, indem er
auf den Gleiskörper einer Schienenbahn tritt und dadurch den
Wagenführer zum Anhalten veranlaßt.
7.
Dem Grundgesetz läßt sich nicht die Befugnis entnehmen, die Wirkung
von Demonstrationen durch Gewaltakte
zu erhöhen.“ (http://www.servat.unibe.ch/dfr/bs023046.html)
Einmal
abgesehen von der populistischen,
volksverhetzenden
Rhetorik der Urteilsbegründung, Sitzdemonstrationen
seien gewalttätig und
sogar eine Form von „Terror“
und
damit
im Sinne von Art.8 GG „unfriedlich“,
war
auch die höchstrichterliche
Auslegung
des Nötigungsgesetzes
objektiv
verlogen.
§
240 StGB
lautet in
seiner Fassung seit 1953:
(1)
„Wer einen Menschen rechtswidrig mit Gewalt oder durch Drohung mit
einem empfindlichen Übel zu einer Handlung, Duldung oder
Unterlassung nötigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren
oder mit Geldstrafe bestraft.
(2)
Rechtswidrig ist die Tat, wenn die Anwendung der Gewalt oder die
Androhung des Übels zu dem angestrebten Zweck als verwerflich
anzusehen ist.
(3)
Der Versuch ist strafbar.“ http://lexetius.com/StGB/240/notigung
Demnach
ist auch eine Nötigung mit „Gewalt“,
gleichgültig ob sie körperlich oder geistig ausgeübt wird, nur
dann strafbar, wenn sie „als verwerflich anzusehen ist“. Wer aber
„bestimmt“, ob eine Nötigung auf Grund des mit ihr angestrebten
Zwecks „als
verwerflich anzusehen ist“?
Auf jeden Fall nicht der Gesetzgeber und vor der Tat, wie es das
Rückwirkungsverbot
nach
Art. 103 GG (s.
u.) vorschreibt.
Das
hatte im übrigen sogar der Bundesgerichtshof selbst in der
Entscheidung des Großen Strafsenats zur Richterfortbildung im
Jahr 1952 auch
noch
ganz
offen festgestellt:
„Hier
fällt deshalb dem Richter die Aufgabe zu, an Stelle des Gesetzgebers
durch unmittelbare Wertung zu entscheiden, ob die tatbestandsmäßige
Nötigung im Einzelfalle rechtswidrig ist oder nicht.“
http://www.servat.unibe.ch/dfr/bs002194.html
Rechtsstaat
heißt: Was nicht verboten ist, ist erlaubt. Ob
der angestrebte Zweck einer Nötigung
verwerflich
war und zu bestrafen ist, kann
nicht
die Polizei, die eine Versammlung auflöst, erkennen, sondern nur
ein Gericht und das erst
lange
nach
der Tat und rückwirkend
entsprechend
seiner ganz persönlichen Gesinnung oder auch im
Sinne
des Corpsgeistes der Strafjustiz bzw. der Staatsrechtslehrer wie
Theodor Maunz oder Roman Herzog (s.
u.).
Das
allein reicht schon dazu
aus,
dass
auf
§ 240 StGB gestützte Strafurteile rechtswidrig
sind.
Im
Psychoterror-Urteil vom 08.08.1969 hieß es dazu jedoch nun
plötzlich:
„ Da
… die tatbestandliche Erweiterung, die zur jetzigen Fassung des §
240 StGB geführt hat, nur die Alternative der Drohung betraf und nur
diese Erweiterung die Rechtswidrigkeitsklausel notwendig macht, ist
die Gewaltanwendung
praktisch indiziell für die Verwerflichkeit der
Nötigung. Nur ausnahmsweise können besondere Umstände das
Verwerflichkeitsurteil ausschließen.“
(http://www.servat.unibe.ch/dfr/bs023046.html,
a.
a.O. Abs.
13.2)
Für
demonstrative Verkehrsbehinderungen sollte die Formel der
Verwerflichkeit also entgegen dem eindeutigen Wortlaut des Gesetzes §
240 StGB nun nicht mehr gelten, und „Gewalt“ als solche sollte
„indiziell“, also in der Regel strafbar sein, was sie vorher noch
nie gewesen war.. Die Verwerflichkeitsformel, die auch Freisprüche
erlaubt und damit liberalen Richtern die angebliche „Legalisierung
eines von militanten Minderheiten geübten Terrors“ ermöglicht
(Psychoterror-Urteil Abs. 14), stand dem Zweck eines Mechanismus‘
der Strafbarkeit entgegen. Deswegen musste gerade die bis dahin
vom BGH so sorgfältig und lidebevoll behütete Formel der
Verwerflichkeit für die oben verhassten Sitzblockaden erst einmal
beiseite geräumt werden. Deswegen die abenteuerliche Behauptung, für
Nötigungen mit Gewalt gelte die Verwerflichkeitsbedingung nicht.
Offensichtlich
hat diese plumpe rechts- und geschichtswidrige Darstellung der
Gesetzesreform im Jahr 1943 und
die
Rechtsmanipulation
die damalige
deutsche
Strafjustiz und die deutsche Rechtslehre jedoch überfordert. Noch
heute kann sie in ihrer Neuauflage als „Zweite-Reihe-Rechtsprechung“
(s.
u.) ihre
vergiftende
Wirkung
tun und
Demokraten dem Staat entfremden.
(7)
Das Rückwirkungsverbot bzw. Bestimmtheitsgebot
Im
sog. „Mutlangen-Urteil“ (s.
u.),
der Antwort des Verfassungsgerichts im
Jahr 1986
auf das hier
so genannte „Psychoterror-Urteil“ von
1969,
im Internet auch als „Sitzblockaden I“ gespeichert, spielte
all das, was bisher zum
Psychoterror-Urteil gesagt
wurde, keinerlei Rolle. Es ging im
Mutlangen-Urteil allein
um die Frage, ob § 240 StGB dem Bestimmtheitsgebot (Art.
103 GG) entspreche:
„Eine
Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich
bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.“
Nach
Absicht der Schöpfer des Grundgesetzes bietet
das Rückwirkungsgebot oder
Bestimmtheitsgebot neben dem Bürger vor allem dem
Verfassungsgericht
prinzipiell das
entscheidende
grundgesetzliche
Machtinstrument zur sog.
Normenkontrolle. Mit
seiner Hilfe kann
und soll das
Verfassungsgericht Gesetze
des Bundestags und
strafrichterliche
Urteile
zu Einzelfällen unter
die Lupe nehmen und
auf ihre Übereinstimmung mit dem Grundgesetz und
den Grundrechten überprüfen
und gegebenenfalls aufheben.
Die
Anwendung und Durchsetzung des Bestimmtheitsgebotes ist so
gewissermaßen
die Königsdisziplin
des
Verfassungsgerichts.
Sie soll die Rechtsdisziplin
der
Staatsgewalten hüten
und gewährleisten.
Das allerdings ist nur möglich, wenn das Verfassungsgericht dabei
voran geht und
selbst vorbildlich Selbstdisziplin
wahrt, was
leider in Deutschland immer
noch nicht
der Fall ist.
Im
Mutlangen-Urteil zum Psychoterror-Urteil des BGH, das sich um die
Anwendung des Bestimmtheitsgebotes auf das Nötigungsgesetz drehte,
hat das
Verfassungsgericht umständlich
auf
zahlreichen Seiten der
Urteilsbegründung im
Wesentlichen drei
Funktionen
des Rückwirkungsverbotes herausgearbeitet.
1.
Als „Rückwirkungsverbot“
im Strafrecht gebietet Art.
103,2
GG demnach,
eine Handlung darf nur bestraft werden, wenn es bereits vor der
Handlung eine entsprechende
Bestimmung
der Strafbarkeit
des entsprechenden Handlungstyps durch
den demokratisch gewählten
Gesetzgeber gab.
2.
Als „Analogieverbot“
bedeutet Art. 103 GG,
Strafbarkeit einer Handlung
ergibt sich allein aus dem Wortlaut und dem Wortsinn eines
Gesetzes zu einem bestimmten
Handlungstyp. Gibt
es kein solches Gesetz für die in Frage stehende Handlung, muss das
Gericht den ‚Täter‘ freisprechen. Gerichte
dürfen nicht Handlungen,
die einem
vom Gesetzgeber als
strafbar bestimmten Handlungstyp lediglich ähnlich
sind, analog
für strafbar erklären.
3.
Als Bestimmtheitsgebot
gebietet Art. 103,2 GG, dass
nur der demokratisch gewählte Gesetzgeber
über die Strafbarkeit eines
Handlungstyps bestimmen
darf und
nicht ein Gericht oder eine
Regierung und das nur in einer allgemein und nicht nur für Juristen
verständlichen Ausdrucksweise.
In
der Darstellung des Bestimmtheitsgebotes durch das Verfassungsgericht
im Mutlangen-Urteil fehlte jedoch der entscheidende Aspekt. Es
funktioniert nur im
sog. Tat-strafrecht,
nicht aber im
sog. Gesinnungsrecht oder Täter-strafrecht.
Objekt des
Bestimmtheitsgebotes im
Tatstrafrecht ist der
sogenannte „Straftatbestand“.
Strafbar im Sinne des Strafgesetzes sind immer vom demokratisch
gewählten Gesetzgeber als strafbar bestimmte Handlungen. Gedanken
und Gefühle dabei können dann Einfluss haben auf das Strafmaß,
für das der Gesetzgeber auch je nach Gesetz verschiedene
Strafrahmen für die
„Strafzumessung“ vorgegeben
hat.
Der
Zweck objektivierenden
Tatstrafrechts
ist zum
einen die Wahrung der Gleichheit
aller
vor
dem Gesetz, unabhängig
davon, was und wie die Bürger denken und fühlen. Zum anderen dient
es der Rechtssicherheit
und
mit ihr der
Freiheit
des
Bürgers, der
weiß, was nicht verboten ist, ist erlaubt.
Sie
grenzt
nach
dem Prinzip der Gegenseitigkeit und Verhältnismäßigkeit
Egoismus
und Konkurrenz
ein, so
dass sie nicht zur Vernichtung des anderen
führen.
Rechtssicherheit
schafft
gegenseitiges
Vertrauen
und damit Frieden statt Gewalt.
Im
sogenannten Täter-Strafrecht ist jedoch nicht eine gesetzlich
bestimmte Handlung als solche strafbar. Sie wird erst dann
strafbar, wenn der mit ihr verfolgte Zweck auf eine „verwerfliche“
„niedrige“ Gesinnung schließen lässt, die
dem Täter ‚abgewöhnt‘ werden soll.
Kann nicht vom demokratisch
gewählten Gesetzgeber vor der Handlung sondern nur nach
der Tat
vom Gericht festgestellt
werden.
Der
Zweck des Täterstrafrechts
ist
auch
nicht Rechtssicherheit des Bürgers, sondern Rechtsunsicherheit,
d.
h. Unkalkulierbarkeit
der Folgen einer
Handlung. Sein
Zweck ist die Auslieferung
des vermeintlich
unmündigen oder
ungehorsamen Bürgers
an den allmächtigen
Staat
als
Gesinnungs- und
auch
Verantwortungsträger.
Deswegen
führten die Nationalsozialisten das Täterstrafrecht ein.
Die
Hitler-Jugend predigte
„Selbstlosigkeit“
als Ideal: „Du
bist nichts! Dein Volk ist alles!“
lautete
ihr Motto. Das
hieß:
Dein Leben zählt nichts, nur das – (angeblich)
bedrohte
- Überleben
deines Volkes zählt. Hinter dem Appell an die Bereitschaft zur
‚Selbstlosigkeit‘, also
der Aufgabe privater Egoismen, steckte
die Aufforderung zur ‚Selbstaufgabe‘,
zur
‚Hingabe‘, zum Aufgeben der eigenen Persönlichkeit zugunsten
der
Identifikation mit
dem eigenen, nationalen Staat
als „Wir“, das an
Stelle
der
Persönlichkeit die
Moral bestimmte
und alle Verantwortung für
den nun nationalen und damit ‚veredelten‘ Egoismus übernahm,
der
vermeintlich
keine
irdische
Begrenzung
mehr kannte
als
den Tod.
Wenn
es heute auch keinen „Führer“, keine NSDAP und keine
Hitlerjugend mehr gibt, so gibt es doch noch vereinzelt Gesetze des
Gesinnungsrechts, die von der Bundesrepublik übernommen wurden, und
§240 StGB ist ein solches Gesetz.
(8)
Täterstrafrecht contra Tatstrafrecht – Die erste Abschaffung des
Bestimmtheitsgebotes
Seit
der Gründung des Zweiten deutschen Kaiserreichs unter Reichskanzler
Bismarck im
Jahr 1871 hatte
es
im deutschen Strafgesetzbuch in
§
2 StGB das Bestimmtheitsgebot gegeben,
Kennzeichen eines jeden
modernen
Rechtsstaats, jedenfalls auf dem Papier. Liberale, Demokraten und
Sozialisten wollten es, Monarchisten und andere Absolutisten wie
die Nationalsozialisten jedoch
nicht.
Es
war jedenfalls
schon
während
der Weimarer Republik umstritten gewesen,
und
bei der Ablehnung durch
viele
Juristen scheint es bis heute geblieben zu sein.
Da
machten die Nationalsozialisten ‚Nägel mit Köpfen‘. Sie hoben
es zur Befriedigung der Justiz, aber auch im ureigenen Interesse
schon im Jahr 1935, dem Jahr auch
der
Nürnberger Rassegesetze, auf. Auf
diese Tatsache findet sich jedoch im
Mutlangen-Urteil zur
Bestrafung von „Sitzblockaden als Nötigung mit Gewalt nach § 240
StGB keinerlei
Hinweis. Hätte
es ihn gegeben und
wäre
die Vorgeschichte des § 240 StGB zur Sprache gekommen, dann
hätte es wohl das gesamte Mutlangen-Urteil
so nicht geben können.
Denn das Bestimmtheitsgebot war nicht nur einfach
aufgehoben, sondern durch eine ganz neue, höchst interessante
Regelung ersetzt worden. Sie lautete:
„Bestraft
wird, wer eine Tat begeht, die das Gesetz für strafbar erklärt oder
die nach dem Grundgedanken eines Strafgesetzes und nach
gesundem Volksempfinden Bestrafung verdient.
Findet auf die Tat kein bestimmtes Strafgesetz unmittelbar Anwendung,
so wird die Tat nach dem Gesetz bestraft, dessen Grundgedanke
auf sie am
besten
zutrifft.“
(http://lexetius.com/StGB/2,5)
Zum
einen wurde damit das Analogieverbot (s. o.) durch die Empfehlung der
Analogie ersetzt:
„Findet
auf die Tat kein bestimmtes Strafgesetz unmittelbar Anwendung, so
wird die Tat nach dem Gesetz bestraft, dessen Grundgedanke
auf sie am besten zutrifft.“ (s. o.)
Die
Empfehlung legitimierte
Entscheidungen am
Gesetz und
am
Gesetzgeber
vorbei.
Das
war jedoch nicht einmal
die
wichtigste Veränderung. Immerhin
boten hier ja vom Gesetzgeber bestimmte Strafgesetze noch eine
gewisse tatrechtliche Orientierung.
Weitaus
wichtiger weil weitreichender war, dass eine
Straftat nicht mehr eine objektive
Handlung
sein sollte, die dem
„positiven“,
also schriftlich gesetzten objektiven
Recht
und Gesetz
widerspricht,
sondern Straftat
sollte eine
Handlung sein,
die nicht dem
subjektiven
„gesunden
Volksempfinden“, also,
auf
Deutsch, dem ‚richterlichen Bauchgefühl‘
entspricht.
Das
war Populismus
pur,
die
Verleitung zu Urteilen aus einem
–
geschürten
- Affekt
heraus, also ohne gründlichere
Überlegung.
Da
diese Regelung wie zuvor das aufgehobene Bestimmtheitsgebot bzw.
Rückwirkungsverbot das gesamte Strafgesetzbuch betraf, hatte sie den
Charakter einer Generalvollmacht
nicht
nur zum
Gesinnungsstrafrecht,
sondern
auch zum Richterrecht.
Das
Corps der Strafrichterschaft erfuhr so einen erheblichen Zuwachs an
Macht und Freiheiten. Die
Richter durften
nun offiziell erst nach
der Tat, also
rückwirkend feststellen,
ob sie Strafe
verdiente oder nicht,
und die Antwort war abhängig einerseits vom „Tätertyp“ und
andererseits und
- noch wichtiger - vom Gesinnungstyp
der Richter, also
vom Richtertyp,
und auf ihre Richter konnte die NSDAP sich verlassen. Der Glaube an
den Nationalsozialismus und sein „Tausendjähriges“ irdisches
‚Himmelreich‘
wurde belohnt, der Zweifel bestraft. Eine
nicht dem Denken und vor allem dem Fühlen der Nationalsozialisten
entsprechende Einstellung
und Überzeugung
war demnach „ungesund“
wenn
nicht „krank“,
und
wenn sie auch noch „ansteckend“ war, war sie - wie ein Virus im
„Volkskörper - zu
bekämpfen
und möglichst zu vernichten. Anders als die NSDAP zu denken und zu
fühlen war „Verrat am Volk“ oder z. B. am Krieg. Es
gab z. B.
den „Tatbestand“ des „Kriegsverrats“
bei
Todessrafe.
Im
Laufe der auf
1935 folgenden Jahre
wurden dann auch einzelne Gesetze auf die
Generalvollmacht zum Richterrecht
umgestellt, so im Jahr 1943 auch das Nötigungsgesetz, das
bis
zum Jahr 1943 gelautet hatte:
„Wer
einen Anderen widerrechtlich durch Gewalt oder durch Bedrohung mit
einem Verbrechen
oder
Vergehen zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung nöthigt, wird
... bestraft.“
Der
Versuch ist strafbar.
Im
Jahr 1943 wurde auch § 240 StGB auf „gesundes Volksempfinden“
als ‚obersten Richter‘ umgestellt:
„(1)
Wer einen anderen rechtswidrig mit Gewalt oder durch Drohung
mit einem empfindlichen
Übel
zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung nötigt, wird wegen
Nötigung ... bestraft.“
(2)
Rechtswidrig ist die Tat, wenn die Anwendung der Gewalt oder die
Zufügung des angedrohten
Übels
zu dem angestrebten Zweck dem gesunden Volksempfinden
widerspricht.“
Aus
Drohung mit einem – gesetzlich als solches bestimmten –
„Verbrechen oder Vergehen“ war eine unbestimmte
„Drohung
mit einem „empfindlichen Übel“
geworden, aus „widerrechtlicher Gewalt“ war unbestimmt
jede
„Gewalt“ geworden,
die rechtswidrig oder auch
rechtmäßig sein konnte, je nach Richter.
Die entscheidende Änderung
war, dass „rechtswidrig“ nicht mehr rechtswidrig bedeuten sollte,
sondern Widerspruch zum
„gesunden
Volksempfinden“.
Besonders damit wurde
der Kreis der für
Strafbarkeit in Frage kommenden Nötigungen erheblich erweitert
und die
Strafbarkeit einer Nötigung letztlich
der Entscheidung allein durch das Gericht unterstellt.
Zusammenfassend
ist zu wiederhoeln:
Das Bestimmtheitsgebot funktioniert nur im objektivierenden
Tatstrafrecht, nicht aber im subjektivierenden Täterstrafrecht.
Eines der Gebote des Rückwirkungsverbots ist die Bindung
der
Strafbarkeit einer Handlung
an ihre „Außenseite“, ist ihre Objektbindung,
statt ihrer
Bindung an die „Innenseite“ einer Handlung, also
ihre Subjektbindung
im Täterstrafrecht.
9)
Hilfe von außen - Befreiung oder Unterwerfung? Das alliierte
Kontrollratsgesetz Nr. 11
Die
Rechtsberater der Siegermächte, die eine solche Generalvollmacht zum
Richterrecht in ihren Ländern wohl nicht kannten, haben ihre
Bedeutung durchschaut. Bereits im Januar 1946 wurde sie mit dem
„Kontrollratsgesetz“ Nr. 11 aufgehoben. Das Rückwirkungsverbot
wurde wieder in Kraft gesetzt.
An
solche Verfügungen der Siegermächte ist die Bundesrepublik noch
heute vertraglich gebunden. Deswegen heißt es auch im Art. 139
GG ausdrücklich:
„Die
zur «Befreiung des deutschen Volkes vom
Nationalsozialismus und Militarismus» erlassenen
Rechtsvorschriften werden von den Bestimmungen dieses Grundgesetzes
nicht berührt.“
Sie
stehen also sogar noch über dem Grundgesetz. Deswegen dürfte das
Rückwirkungsverbot dann auch sogar ins Grundgesetz aufgenommen
worden sein.
Die
einzelnen auf die NS-Vollmacht zum Richterrecht umgestellten
Paragraphen blieben jedoch erhalten. Zur Tarnung wurde aus der Formel
„dem gesunden Volksempfinden widerspricht“ im sog.
„Strafrechtsbereinigungsgesetz“ von 1953 die Formel „als
verwerflich anzusehen ist“, in
der Sache blieb es jedoch bei
dem Gesetz des
Täterstrafrechts.
Das
Bestimmtheitsgebot, gegen das
dieses Gesetz offensichtlich verstößt, war
eben,
wie man an der Generalvollmacht von
1935 erkennen konnte,
kein Herzensanliegen der deutschen Justiz. Auch
in einer Entscheidung des BGH zu § 240 StGB gleich
im Jahr 1951, also
zwei Jahre nach Erlass des Grundgesetzes wurde
der tiefsitzende
Verdruss
über das Kontrollratsgesetz Nr. 11 noch
einmal offen zum Ausdruck
gebracht, als es dort zum
„gesunden Volksempfinden“ hieß:
„
Absatz
2 ist seinem wirklichen Gehalt nach dahin zu verstehen, dass der
Richter bei der Abgrenzung des strafwürdigen Unrechts von nicht
strafwürdigem Verhalten nach dem Verhältnis des Mittels zum Zweck
auf das Rechtsempfinden des Volkes zu achten hat. Das ist ein alter
Grundsatz rechtsstaatlicher Strafrechtspflege des Besatzungsrechts
entgegen. Sie verbieten nur, dass der Richter nach angeblichem
gesunden Volksempfinden, d.h. willkürlich, strafe.“
(a.
s. O. Abs. 6
https://www.jurion.de/urteile/bgh/1951-04-04/1-str-77_50/
)
In
diesem Sinne stellte
der BGH im Jahr 1952 im Urteil des Großen Strafsenats zum Zweck der
„Rechtsfortbildung“ zur Rechtswidrigkeitsformel und deren
Widerspruch zur
Volksempfindensformel auch
ganz unbefangen klar,
als gäbe es noch immer keine Gewaltenteilung und kein
Bestimmtheitsgebot:
„Hier
fällt deshalb dem Richter die Aufgabe zu, an Stelle des Gesetzgebers
durch unmittelbare Wertung zu entscheiden, ob die tatbestandsmäßige
Nötigung im Einzelfalle rechtswidrig ist oder nicht.“ (BGH
1952 http://www.servat.unibe.ch/dfr/bs002194.html
Abs. 7)
Also
nicht der Gesetzgeber, sondern im
Zweifelsfall er selbst,
der BGH, das oberste
Gericht, hat bei
Nötigungen allein zu
entscheiden.
Auch
der Bundestag winkte trotz
„Kontrollratsgesetz Nr. 11 und Art. 139 GG (s.
o.) die
Beibehaltung von NS-Paragraphen wie
§ 240 StGB 1953
durch. Da
es den „Führer“, die NSDAP und die „Gleichschaltung nicht
mehr
gab, schien das auch
kein
Problem zu sein.
Damit
wurde jedoch die Gefährlichkeit solcher Inkonsequenz, so
weit nicht sogar
gewollt,
erheblich unterschätzt.
Schließlich
fiel mit dem Mutlangen-Urteil das
Bestimmtheitsgebot dem
Paragraphen
240 StGB erneut
zum
Opfer.
(10)
erneute
Aufhebung
des Bestimmtheitsgebotes: Das
Mutlangen-Urteil
des
Verfassungsgerichts
In
den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts gab es zwei politische
Protestbewegungen, angeführt von Bürgerinitiativen, zum einen die
„Öko-Bewegung“ gegen Kernkraftwerke, z. B. Wackersdorf –
am 26. April 1986, also sieben Monate vor dem Mutlangen-Urteil,
war das Kernkraftwerk Tschernobyl explodiert, zum anderen die
Friedensbewegung. Sie richtete sich gegen die Stationierung
amerikanischer atomarer Mittelstreckenraketen in Deutschland.
Wolfgang
Sternstein, ein Stuttgarter Veteran der Friedensbewegung, schreibt in
seinen Erinnerungen:
„Es
war die deutsche Friedensbewegung, die dem durch den zweimaligen
Angriff deutscher Truppen traumatisierten russischen Volk glaubhaft
vermittelte, dass das Deutschland der Nachkriegszeit nicht mehr das
Deutschland von 1914 oder 1941 ist. Für diese Behauptung habe ich
einen glaubwürdigen Zeugen: Georgij Arbatow, Nordamerikaexperte und
Gorbatschowberater. Er sagte bei einem Symposion in den USA: «Die
Friedensbewegung war ein Ausdruck des Bewusstseinswandels, der sich
in der westdeutschen Bevölkerung abgespielt hat. Das war ein Faktor
für unsere Entscheidung, Michael Gorbatschow als Verfechter eines
dezidierten Entspannungskurses zum Generalsekretär zu wählen.»“
(Wolfgang Sternstein: Mein Weg zwischen Gewalt und Gewaltfreiheit,
Books on Demand 2005, S. 390
)
Nicht
nur vielen demokratisch engagierten Bürgern, sondern auch vielen
Juristen, auch Richtern, leuchtete es damals nicht mehr ein, dass
demonstrative Verkehrsbehinderungen mit solchen Zielsetzungen
strafbar sein sollten, wo Demonstrationen doch sonst erlaubt waren,
auch wenn sie regelmäßig mit Verkehrsbehinderungen verbunden waren.
Nicht nur Demonstranten wurden rechtswidrig genötigt, sondern auch
Gerichte. Davon legt eine Passage im Roma-Selbsthilfe-Urteil des
Verfassungsgerichts vom Jahr 2001 Zeugnis ab, in dem es u. a. um eine
Aktion im Jahr 1986 vor der atomaren Wiederaufbereitungsanlage
Wackersdorf in Bayern ging:
„Nachdem
das Landgericht Amberg die Beschwerdeführerin freigesprochen hatte
und nach Aufhebung des Berufungsurteils durch das Bayerische Oberste
Landesgericht erneut zu einem Freispruch gelangt war, wurde auch
dieses Urteil aufgehoben und die Sache an das Landgericht
Nürnberg-Fürth zurückverwiesen. (Roma-Selbsthilfe-Urteil
vom 24.10.2001 Abs.
11
http://www.servat.unibe.ch/dfr/bv104092.html)
Es
gab eben auch Richter mit Amtscourage und sogar einige mit
Zivilcourage, die sich selbst gegen die offensichtliche Justizwillkür
zur Wehr setzten und auch an Sitzblockaden beteiligten und sich damit
der Verurteilung durch Kollegen aussetzten. (s. W. Sternstein, Die
Richterblockade, a. a. O. S. 394
ff.)
Aber
sie alle wussten offensichtlich nicht, warum sie nicht nur moralisch,
sondern auch juristisch im Recht waren. Hätte die Justiz sich an
das Versammlungsgesetz gehalten, wären all die Verurteilungen, auch
die im Mutlangen-Urteil des Verfassungsgerichts verhandelten und
rechtswidrig bestätigten, nicht möglich gewesen.
Demonstranten
und auch Anwälte beriefen sich tragischer Weise auf die Formel der
Verwerflichkeit in § 240 StGB, also eine Formel der Willkür,
die ein Gericht so oder so auslegen kann. In den Jahren 1986 bis 1988
(vgl. zum Fernziele-Urteil des BGH,
https://www.jurion.de/urteile/bgh/1988-05-05/1-str-5_88/)
vertraten sogar vier von sieben Oberlandesgerichten diese
Vorstellung. Auch sie wussten nicht, dass den Demonstranten der
Schutz des Versammlungsrechts nicht deswegen zustand, weil sie
ehrenwerte Ziele verfolgten, sondern weil friedliche Versammlungen
als solche grundrechtlich geschützt sind, völlig unabhängig von
den Zielen, die mit ihnen verfolgt werden. Versammlungen benötigen
für ihre Straflosigkeit rechtlich nicht den Nachweis nicht
verwerflicher Ziele, das Versammlungsrecht reicht völlig aus. So
viel zur damaligen Situation, in die mitten hinein das unsäglich
peinliche Mutlangen-Urteil des Verfassungsgerichts vom 11.11.1986
fiel.
Die
Entscheidung drehte sich nicht um das, was hier bereits über das
Psychoterror-Urteil des
BGH gesagt
wurde. Die Entscheidung, über der sich der Erste Senat in vier zu
vier Richter spaltete, in vier pro Psychoterror-Urteil des BGH und
vier gegen die Strafbarkeit demonstrativer Verkehrsbehinderungen als
psychische
Gewalt,
drehte sich allein um die Frage, ob § 240 StGB dem
Bestimmtheitsgebot entspreche und
auch
psychische
Nötigung „Gewalt“ sei. Die Kritiker retteten
sich
auf den Standpunkt, die „Vergeistigung“
der Gewalt im
Psychoterror-Urteil des BGH widerspreche
dem Analogieverbot (s. o.). Der
Gesetzgeber habe unter „Gewalt“ körperliche
und nicht
psychische
oder geistige Gewalt verstanden. Demonstrative
Verkehrsbehinderungen fielen deswegen nicht unter das
Nötigungsgesetz. Die
von den vier Verteidigern des Psychoterror-Urteils beim
Verfassungsgericht getragene
Mutlangen-Entscheidung
lautete jedoch:
„ Soweit
durch diese Vorschrift Nötigungen mit dem Mittel der Gewalt unter
Strafe gestellt werden, ergibt die verfassungsgerichtliche
Überprüfung, daß die Normierung des § 240 StGB durch den
Gesetzgeber dem aus Art. 103 Abs. 2 GG folgenden Bestimmtheitsgebot
für Strafbestimmungen genügt.“ (Mutlangen-Urteil
Abs. 61 –
vgl. auch Absätze 68, 72, 80, 84)
Im
Anti-Psychoterror-Urteil des Verfassungsgerichts im Jahr 1995 wurde
sie noch einmal bestätigt:
„Das
Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom 11. November 1986
... § 240 StGB für vereinbar mit Art. 103 Abs. 2 GG erklärt, und
zwar sowohl hinsichtlich des Gewaltbegriffs in Absatz 1 als auch der
Verwerflichkeitsklausel in Absatz 2 dieser Vorschrift“.
(Anti-Psychoterror-Urteil
Abs. 50
http://www.servat.unibe.ch/dfr/bv092001.html)
Das
Verfassungsgericht attestierte damit im Jahr 1986 also ausgerechnet
einem Gesetz die Übereinstimmung mit dem Bestimmtheitsgebot, das
seine heutige Struktur und seine Funktion gerade der Abschaffung des
Bestimmtheitsgebotes durch die Nationalsozialisten ‚verdankt‘.
Indem das Bestimmtheitsgebot so versteckt und verstockt ad absurdum
geführt wurde, wurde es völlig entwertet und damit faktisch erneut
aufgehoben. Kleine, unscheinbare Ursache – große Wirkung! „Der
Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.“ (Bertold Brecht) Der
Versuch, das Bestimmtheitsgebot auf Täterstrafrecht anzuwenden, ist
ungefähr so sinnvoll, wie der, einer Giftschlange ein Halsband
anzulegen, um sie spazieren zu führen.
(11)
„allgemeine Gerechtigkeitserwartung“: Das
Lebenslänglich-Urteil des Verfassungsgerichts
Dass
das Bestimmtheitsgebot der Verwerflichkeitsformel zum Opfer gebracht
werden konnte, lässt erahnen, dass es dabei um sehr viel mehr ging
als um ein paar hundert oder tausend Verkehrsbehinderungen mehr oder
weniger im Jahr. Die Willkür-Formel „gesundes Volksempfinden“
erfuhr im Laufe der Jahre neben der als „Verwerflichleit“
zahlreiche weitere ‚Verkleidungen‘, z. B. „der
allgemeinen Volksüberzeugung widerspricht“
oder „dem natürlichen Rechtsgefühl widerspricht“
„nach allgemeinem Urteil sittlich in hohem Maße
mißbilligenswert erscheint“ oder „so
anstößig ist, daß es als gröberer Angriff auf die
Entschlußfreiheit anderer der Zurechtweisung mit den Mitteln des
Strafrechts bedarf" (Fernziele-Urteil BGH Abs. 17,
https://www.jurion.de/urteile/bgh/1988-05-05/1-str-5_88/)
oder auch der „allgemeinen
Gerechtigkeitserwartung“ entspricht.
Ein
Beispiel für die Problematik der Berufung auf solche Formeln statt
auf positives Recht und Gesetz ist die Entscheidung der Ersten Senats
des Verfassungsgerichts vom 21. Juni 1977 zur Frage, ob mit der
Abschaffung der Todesstrafe nicht auch die lebenslange Haft für Mord
als sozusagen ‚soziale Todesstrafe‘ rechtswidrig geworden sei.
Die Entscheidung unter dem Senatsvorsitz des bekennenden Protestanten
Ernst Benda lautete zunächst:
„ … die
unverlierbare Würde des Menschen als Person besteht gerade darin,
daß er als selbstverantwortliche Persönlichkeit anerkannt bleibt.
(Abs. 144)...
Mit einer so verstandenen Menschenwürde wäre es unvereinbar, wenn
der Staat für
sich in Anspruch nehmen würde,
den Menschen zwangsweise seiner Freiheit zu entkleiden, ohne daß
zumindest die
Chance für ihn besteht, je wieder der Freiheit teilhaftig werden zu
können.“
(http://www.servat.unibe.ch/dfr/bv045187.html
-
a. a. O. Abs.
145)
Also
auch ein Mörder darf nicht
lebenslang gefangen
gehalten werden, da die
Haft nicht nur dem „Schuldausgleich“, sondern
auch der Resozialisierung dienen soll.
Trotzdem kam
man
zu dem Schluss,
die lebenslange
Gefängnisstrafe stehe dem Gesetzgeber bei
Mord dennoch zur
Verfügung. Dazu hieß es:
„Das
Leben jedes einzelnen Menschen gehört zu den höchsten Rechtsgütern.
… Wenn der Gesetzgeber für besonders verwerfliche Verletzungen
dieses höchsten Rechtsguts, die mit dem überkommenen Begriff "Mord"
umschrieben werden, die schärfste ihm
zu Gebote stehende Sanktion verhängt,
so kann dies –
jedenfalls im Ansatzpunkt –
verfassungsrechtlich nicht beanstandet werden.“ (a.a.
O. Abs.
213)
„Diese
Strafe steht ferner mit der allgemeinen
Gerechtigkeitserwartung
im Einklang.“
(Abs. 223).
Der
Staat darf offensichtlich
niemanden
lebenslang ins Gefängnis stecken. Also
ist § 211 StGB rechtswidrig und
war
das
Urteil des Verfassungsgerichts opportunistisch
und unaufrichtig.
Um
das zu ‚verkleiden‘,
berief das
Verfassungsgericht sich
schließlich
populistisch
und
damit
pseudodemokratisch
auf
eine
angeblich
„allgemeine Gerechtigkeitserwartung“,
ein
anderer Begriff
für
„gesundes
Volksempfinden“.
Wie
wenig allgemein die
„allgemeine
Gerechtigkeitserwartung“
der
‚sozialen
Todesstrafe‘ für
Mörder in
Wirklichkeit war,
zeigte
sich allerdings
nur
11
Jahre nach jenem
Urteil.
Im
Jahr 1988 überlegte
der
damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker
(CDU), zwei Ex-Terroristen der RAF nach
11 Jahren Haft zu
begnadigen. Parteipolitische
Gegner
einer Begnadigung entfesselten
jedoch
eine
heftige öffentliche
Auseinandersetzung,
und tatsächlich sprachen
sich zunächst
zwei
Drittel der Bevölkerung gegen
eine Begnadigung aus. Aber
Weizsäcker
vertrat standhaft
sein
Begnadigungsrecht, und
nach
einem halben Jahr öffentlicher
Diskussion sprachen
sich
in einer vom
SPIEGEL
in
Auftrag gegebenen Umfrage
nur
noch 46 Prozent der
Befragten gegen
eine
Begnadigung aus.
(http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13530979.html).
(12)
Vom
Saulus zum Paulus
Es
gibt bei Google eine Zählung von Urteilen des Verfassungsgerichts zu
demonstrativen Verkehrsbehinderungen: „Sitzblockaden I“ für das
Mutlangen-Urteil 1986, „Sitzblockaden II“ für das
Anti-Psychoterror-Urteil 1995 sowie „Sitzblockaden III“ für das
Roma-Selbsthilfe-Urteil 2001.
Es
gibt jedoch, wenn man das General Bastian-Urteil von 1987 einmal
beiseite lässt, wenigstens vier grundlegende Entscheidungen des
Verfassungsgerichts zum Thema. Das Auflösungsurteil vom 01.12.1992,
wie beim Mutlangen-Urteil 1986 unter dem Senatsvorsitz Roman Herzogs,
der zwei Jahre später Bundespräsident wurde
(http://www.servat.unibe.ch/dfr/bv087399.html),
das einzige korrekte in der Nummerierung, wird in der
Internet-Aufzählung nicht mitgezählt. Warum? Warum wurde
ausgerechnet dieses Urteil ausgegrenzt? Auch um darauf aufmerksam zu
machen, habe ich meine kleine Studie hier auch ironisch und
hoffentlich für Roman Herzog ehrenrettend als „Sitzblockaden V“
bezeichnet.
In
ihm drehte es sich um das Thema Rechtmäßigkeit einer
Versammlungsauflösung. Im Unterschied zu den drei genannten, mit
römischen Ziffern geehrten Urteilen war es, wie gesagt, nicht
rechtswidrig, sondern korrekt. Deswegen hieß es in ihm auch:
„Auch
Sitzblockaden genießen den Schutz der Versammlungsfreiheit. Sie
erfüllen unabhängig davon, ob sie als Anwendung von Gewalt im Sinn
von § 240 StGB anzusehen sind, nicht den Tatbestand der
Unfriedlichkeit im Sinn von Art. 8 Abs. 1 GG, der sie dem
Schutzbereich dieses Grundrechts entziehen würde. Unfriedlich ist
eine Versammlung vielmehr erst, wenn Handlungen von einiger
Gefährlichkeit wie etwa Gewalttätigkeiten oder aggressive
Ausschreitungen gegen Personen oder Sachen stattfinden, nicht schon,
wenn es zu Behinderungen Dritter kommt, seien diese auch gewollt und
nicht nur in Kauf genommen“. (BVerfGE 87, 399, 01.12.1992, Abs.
35, http://www.servat.unibe.ch/dfr/bv087399.html
)
Zum
ersten und bis 2004 einzigen Mal war das Versammlungsgesetz in seinem
Paragraphen 15 der Maßstab. Mit ihm wurde sowohl das
Psychoterror-Urteil des BGH als auch das eigene Mutlangen-Urteil
rundum widerlegt, allerdings leider ohne sich dazu auch mutig zu
bekennen.
Roman
Herzog war einst Schüler und Assistent des prominenten
Staatsrechtlers Theodor Maunz gewesen, hatte bei ihm promoviert,hatte
ihm assistiert und sich als Staats- und Verfassungsrechtler
habilitiert. Als Autor von Grundrechtskommentaren und späterer
Mitherausgeber der einflussreichsten konservativen Sammlung
und Veröffentlichung von Rechtskommentaren „Maunz-Dürig“,
später „Maunz-Dürig-Herzog“, hatte auch er sich einen Namen als
Staatsrechtler gemacht. Er galt als liberaler Konservativer.
Dann
war er jedoch, wie schon sein großes Vorbild Theodor Maunz vor ihm,
in die Politik gegangen, war wie vor ihm einst Theodor Maunz in
Bayern, Kultusminister in Baden-Württemberg geworden, hatte dann
jedoch ins dortige Innenministerium gewechselt und war
inzwischen im Gespräch für das Amt des Senatsvorsitzenden beim
Verfassungsgericht.
Deswegen
führte im Dezember 1992 DER SPIEGEL mit ihm ein Interview, um ihm
auf den Zahn zu fühlen, denn er hatte sich gerade überraschend
einen Namen als Scharfmacher in Sachen „Sitzblockaden“,
also des Demonstrationsrechts gemacht, über das das
Verfassungsgericht bis dahin noch nie geurteilt hatte. Er hatte per
ministerieller Verordnung im „Ländle“ eine sog. „Wegtragegebühr“
für Sitzblockierer eingeführt, die der Auflösung einer
demonstrativen Verkehrsbehinderung durch die Polizei nicht Folge
geleistet, sondern sich hatten von der Fahrbahn tragen lassen.
Herzogs Begründung: Solche Demonstranten nähmen staatliche
Dienstleistungen in Anspruch. Damit wurden Demonstrationen mit
gewinnorientierten Veranstaltungen wie Popkonzerten oder
Fußballspielen gleichgestellt, bei denen die Polizei
Ordnerfunktionen übernimmt – ein (rechtswidriger)
‚Schwabenstreich‘.
Aber
Herzog ‚bekannte Farbe‘, offensichtlich ohne jedes
Unrechtsbewusstsein.
Im Interview hieß es vielmehr:
„Und
ich komme über den Paragraphen 240 des Strafgesetzbuches, über die
Nötigung nach der Auslegung des Bundesgerichtshofes, nicht hinweg.
Hier werden keine staatsbürgerlichen Rechte ausgeübt. … ich
sehe es jetzt selber, ich will nicht sagen, als unglücklich an, aber
jedenfalls als nicht mehr innerhalb des verfassungsgemäßen Rahmens,
daß jemand sich auf die Straße setzt und einen anderen an der
freien
Fortbewegung
hindert. Ich ließe mit mir in der Frage der Abgrenzung durchaus
verhandeln, wenn nicht der Bundesgerichtshof in dieser Geschichte so
eindeutige Grenzen gezogen hätte, die wir im
strafverfolgungsrechtlichen Teil des Spiels in jedem Fall beachten
müssen.“
(http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-14357756.html)
Damit
versprach er, er werde als Senatsvorsitzender des Verfassungsgerichts
die bis dahin herrschende Rechtsprechung zu demonstrativen
Verkehrsbehinderungen nicht in Frage stellen, sondern bestätigen.
Dabei stellte er es so dar, als müsse das Verfassungsgericht sich
dem Bundesgerichtshof und das Versammlungsrecht dem Strafrecht
unterordnen, genau umgekehrt, wie das Grundgesetz es vorsieht.
Verkehrte Welt! Und so geschah es dann im maßgeblich von ihm zu
verantwortenden Mutlangen-Urteil auch. Ob er dabei auf sich selbst
gehört hat oder doch eher auf seinen Lehrmeister Theodor Maunz,
bleibe dahin gestellt.
Sowohl
das Mutlangen-Urteil als auch das Auflösungs-Urteil vom Jahr 1992,
beide unter seinem Vorsitz, sprechen allerdings eher für Letzteres.
So wie Saulus sich laut Bibel in einer Begegnung mit Jesus von einem
Verfolger der Christen in den christlichen Apostel Paulus verwandelt
haben soll, so hat sich Herzog tatsächlich von einem Verfolger von
Sitzblockierern in deren Beschützer verwandelt. Da stellt sich die
Frage: Wer war der Jesus des militanten Protestanten und Lutheraners?
Sein
Lehrmeister Theodor Maunz, ein verschwiegen bekennender Katholik, war
während des Dritten Reichs ein Anhänger Hitlers gewesen und hatte
als Staatsrechtler dessen Diktatur legitimieren geholfen, das jedoch
bis 1964 vor der Öffentlichkeit zu verbergen gewusst. Bis dahin
hatte er sich jedoch als Professor für Staatsrecht bereits den Namen
als „lupenreiner Demokrat“ zu machen gewusst, und Herzog hatte
ihm, als die Vergangenheit seines Lehrmeisters und Gönners aufflog,
‚aus der Patsche‘ geholfen.
Otto
Köhler, ein Journalist und Publizist, der einst schon zur Enttarnung
des Theodor Maunz beigetragen und dessen weitere Karriere aufmerksam
verfolgt hatte, berichtete im Jahr 2005 von Pressekommentaren zum Tod
von Theodor Maunz im Jahr 1993:
"«Sein
Name zählt» - so schrieb, als Theodor Maunz 1993 im Alter von
92 Jahren starb, die Frankfurter Allgemeine - «zu den
großen in der deutschen Staatsrechtslehre». Und die Süddeutsche
Zeitung lobte den Grundgesetzkommentator: «Seine
verfassungsrechtliche Arbeit in den fünfziger und sechziger Jahren
hat dazu beigetragen, die Grundlagen für ein demokratisches
Deutschland zu schaffen.».“
(https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/stumpf-gegen-rechts)
Nur
wenige Tage nach dem Tod von Theodor Maunz und den Lob-Nachreden der
Presse hatte jedoch der Vorsitzende der rechtsradikalen DVU (Deutsche
Volksunion) und Herausgeber des rechtsradikalen Kampfblatts
NATIONALZEITUNG Gerhard Frey bekannt gemacht, dass Maunz ihm über
Jahrzehnte hinweg als treuer Freund, Rechtsberater und Kommentator
eng verbunden gewesen war. Maunz war seiner nationalsozialistischen
Gesinnung also bis zum Tod heimlich treu geblieben und hatte –
selbst gegenüber seiner eigenen Familie – ein Doppelleben als
politischer ‚Hochstapler‘ geführt. Maunz war also sowohl Herzog
als auch Frey eng verbunden gewesen. Damit standen Herzog und die
großen Medien ziemlich blamiert da. Das schadete Herzogs Karriere
jedoch nicht. Ein Jahr später wurde er zum Bundespräsidenten
gewählt.
Für
einen nicht unerheblichen ideologischen und politischen Einfluss des
Lehrmeisters Theodor Maunz auf seinen „Schüler“ spricht ein
Grundrechtskommentar Herzogs zu Artikel 139 GG (s. o.), in dem es
laut Otto Köhler hieß:
„Mit
dem Abschluss der sog. Entnazifizierung ist Art. 139 obsolet
geworden. ... Abzulehnen ist insbesondere der Versuch, ihn als
Grundsatzaussage über die Haltung des GG gegenüber
nationalsozialistischen und verwandten (z. B. faschistischen)
Staatsauffassungen anzusehen und insoweit natürlich fortgelten zu
lassen."
(https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/stumpf-gegen-rechts
)
Demnach
wären für Herzog Nationalsozialismus und Faschismus mit dem
Grundgesetz vereinbar gewesen. Aber Köhler deutet auch an, Herzog
habe den Kommentar im Auftrag seines ‚Meisters‘ geschrieben. Das
würde heißen, er war dabei vor allem dessen Sprachrohr.
‚Bekehrt‘,
also eines besseren belehrt haben dürfte Herzog wohl dann der
Bundesgerichtshof mit seinem Urteil zur Sperrwirkung des
Versammlungsgesetzes gegenüber anderen Gesetzen, deren Einsatz gegen
Demonstrationen sich als „unzulässiger gezielter Eingriff in
das Versammlungsrecht“ darstelle. Im Interview mit dem
SPIEGEL hatte er schließlich auch seinen geradezu untertänigen
Respekt gegenüber der Verwaltungsjustiz zum Ausdruck gebracht, indem
er die Vertreter des Magazins in Sachen „Wegtragegebühr“
beruhigte:
„Außerdem
haben sich die Leute bislang ganz gut zu wehren gewußt. Und die
Verwaltungsgerichte haben uns noch immer klargemacht, was geht oder
was nicht geht.“
Nur
einen Monat vor jenem Auflösungsurteil vom 01.12.1992 unter dem
Vorsitz nun von ‚Paulus Herzog‘ hatte sein Senat am 03.November
unter seinem Vorsitz auch noch ein Urteil zur Frage, was ist Willkür,
gefällt. Zufällige Koinzidenz? Dort hieß es:
1.
„… Willkür liegt … erst vor, wenn eine offensichtlich
einschlägige Norm nicht berücksichtigt oder der Inhalt einer Norm
in krasser Weise mißdeutet wird.
2.
.... Das Bundesverfassungsgericht greift erst ein, wenn die
Begründung der Entscheidung eindeutig erkennen läßt, daß sich das
Gericht aus der Rolle des Normanwenders in die einer normsetzenden
Instanz begeben hat, also objektiv nicht bereit war, sich Recht und
Gesetz zu unterwerfen.“
(https://www.jurion.de/urteile/bverfg/1992-11-03/1-bvr-1243_88/)
Damit
haben er und weitere zwei Richter schon des Mutlangen-Urteils auch
sich selbst das Urteil gesprochen.
(13)
Im Namen des Herzogs - Justiz im Dienst obrigkeitlicher Selbsthilfe
Der
absolute
Tiefpunkt
in
der Umsetzung der Rechtslehre
Herzogs
lag wohl
im
Roma-Selbsthilfe-Urteil
vom 24.10.2001 unter
dem Senatsvorsitzenden
von
Hans-Jürgen
Papier
(BVerfGE
104, 92 - Sitzblockaden III
http://www.servat.unibe.ch/dfr/bv104092.html),
obwohl
Herzog
da schon längst nicht mehr Verfassungsrichter war. In
ihm wurden
noch
einmal modellhaft
mit einem ‚Zaubertrick‘ das Versammlungsrecht einfach
zum
Verschwinden gebracht und die
eigene,
gegen
das Versammlungsrecht gerichtete,
verbotene
obrigkeitliche
„Selbsthilfe‘, also
Willkür
auf
das Grund- und Menschenrecht wahrnehmende Demonstranten projiziert
und
übertragen.
Ca.
600 des Deutschen nicht mächtigen Roma
und Sinti jeden Alters und
auch noch „ganz
überwiegend Personen ..., die nicht Deutsche im Sinne des
Grundgesetzes sind“, wie
es im Urteil bedeutungsvoll
hieß,
hatten sich zum
Protest gegen die drohende Abschiebung tausender Stammesgenossen zu
einem Protestzug nach Genf zur UNO aufgemacht, waren jedoch von den
Schweizer Behörden nicht über die Grenze bei Basel gelassen worden,
hatten deswegen mit einer Blockade den Autobahn-Grenzübergang
blockiert und so gegen die Abschiebung demonstriert.
Der
Verkehr hatte zu einem anderen Grenzübergang umgeleitet werden
können. Es hatte
keinerlei Gewaltanwendung
und auch keinerlei Drohung, den Grenzübertritt mit Gewalt zu
erzwingen gegeben Allein
der Gedanke daran wäre
abwegig gewesen. Trotzdem
hatten das Lörracher Amtsgericht und das Karlsruher
Oberlandesgericht sich auf den Standpunkt gestellt:
„Art.
8 GG schützt die Teilhabe an der Meinungsbildung, nicht aber die
zwangsweise oder sonst wie selbsthilfeähnliche
Durchsetzung eigener Forderungen (vgl.
Herzog,
in: Maunz/Dürig
… .). Die
Erzwingung des eigenen Vorhabens stand nach dem vom Amtsgericht
festgestellten Sachverhalt im Vordergrund der Blockadeaktion.“(Abs.
42)
„Soweit
der Beschwerdeführer darlegt, die Aktion habe auch einen an die
Öffentlichkeit gerichteten Kommunikationszweck verfolgt …, sind
die Ausführungen nicht hinreichend substantiiert.“
(Abs.
43)
Der
Kommunikationszweck „nicht
hinreichen substantiiert“!
Da
Fallen mir nur noch die drei Affen ein, die sich Augen, Ohren und
Mund zuhalten. Unterschrift: Nichts sehen! Nichts
hören! Nichts
sagen. Überschrift: Realitätsverweigerung. Im
Namen des Herzogs!
Hätten
die Verfassungsrichter des
Jahres 2001 sich die
Entscheidung ihrer Vorgänger im
Jahr 1992, also
auch die Herzogs, gründlich
zu eigen gemacht, dann hätte
ihre Entscheidung
wohl anders
ausgesehen.
Aber
den
Verfassungsrichtern war offensichtlich
immer
noch nicht
einmal klar, dass
mit der für Einschränkungen des Versammlungsrechts „zuständigen
Behörde“
(s. § 15 VersG) unmissverständlich
nicht die Polizei, sondern die örtliche Ordnungsbehörde gemeint
ist. So
hieß es im Urteil zur Selbstankettungsaktion bei Wackersdorf,
deswegen „durfte
die zuständige Behörde die angebrachten Ketten zerschneiden“ (a.
a. O. Abs. 52).
Die
gesamte Begründung des
Urteils ist
von erschreckender Inkompetenz und Überforderung gezeichnet,
wahrlich
kein Ruhmesblatt deutscher Justiz, die
es sich leider
zur
Aufgabe gemacht hat, bei der Vertreibung von „Landplagen“
nachzuhelfen
(vgl.
http://www.spiegel.de/panorama/justiz/sinti-und-roma-bgh-distanziert-sich-von-historischem-urteil-a-1023256.html).
Im
Jahr 2010 nahmen die
Stuttgarter Stadtverwaltung
und hauptverantwortlich die
Landesregierung sich am
berüchtigten inzwischen so
genannten „Schwarzen
Donnerstag“ für ihren
brutalen Wasserwerfereinsatz gegen eine Spontanversammlung mehrerer
tausend Gegner von Stuttgart 21 im Stuttgarter Schlossgarten
nicht ohne Grund
ausgerechnet das Roma-Urteil
zum Vorbild. Laut Urteil
des Stuttgarter Verwaltungsgerichts haben sie im Vertrauen auf das
Roma-Urteil auf den erforderlichen Auflösungsbeschluss der
zuständigen Behörde
„bewusst
verzichtet“,
obwohl der zuständige Vertreter der zuständigen Behörde den
ganzen Tag über vor Ort war.
Deswegen
sollten
vielleicht
einmal in der Ausbildung von Juristen das
Roma
Urteil
des
Verfassungsgerichts und
das zitierte
Urteil
des Bundesverwaltungsgerichts vom 31.01.1967 als
Negativ-Beispiele
und
das
bereits ebenfalls
zitierte
Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom
21.04.1989
sowie
das
Auflösungsurteil
der Ersten Senats 1992 und das Urteil
der 5. Kammer des Stuttgarter Verwaltungsgerichts vom
18. November 2015 zum
„Schwarzen
Donnerstag“ in
Stuttgart
(Az.
5 K 1265/14 -
http://openjur.de/u/867817.html
)
als
Positiv-Beispiele
der Rechtsprechung
und der Rechtsetzung
genommen
werden,
zum
Beispiel in Lehrbüchern und in
Klausuren.
Wie
wäre das?
(14)
Verirrungen
des
Ersten Senats - eine Zusammenfassung
1.
Das Psychoterror-Urteil
(„Laepple-Urteil“) des Bundesgerichtshofs
erklärte Nötigung von Verkehrsteilnehmern eigenmächtig zu
strafbarer „Gewalt“ und für „unfriedlich“,
also gewalttätig und aufrührerisch, und
beging
damit bewusste
Rechtsbeugung
sowohl in einfachrechtlicher
als auch vor
allem in
verfassungsrechtlicher
Hinsicht.
2.
Durch die ‚Anpassung‘
des Bestimmtheitsgebotes an ein unbestimmtes Gesetz (§
240 StGB) im
Mutlangen-Urteil verloren
das Bestimmtheitsgebot und
das Rückwirkungsverbot die
ihnen vom Verfassungsgeber zugedachte Autorität
eines festen Ankers des
Rechtsstaats.
3.
Das Versammlungsrecht
ist gegenüber dem Nötigungsrecht für friedliche Versammlungen
sozusagen eine „gestattende Gegennorm“.
Deswegen ist es auch verfassungswidrig, wenn es bis
heute heißt:
„Ein
allgemein verbotenes Verhalten wird nicht dadurch rechtmäßig, dass
es gemeinsam mit anderen in Form einer Versammlung erfolgt. Art. 8 GG
schafft insbesondere keinen Rechtfertigungsgrund für strafbares
Verhalten“.
(http://www.servat.unibe.ch/dfr/bv104092.html
- Roma-Selbsthilfe-Urteil
Abs.
50
4.
Der
‚Mechanismus der Verhältnismäßigkeit‘ des Versammlungsgesetzes
im Dienst der Versammlungsauflösung als ultima ratio wird
von der Strafjustiz bis heute nicht angemessen
beachtet
und nicht konsequent angewendet. Das
zeigt nicht zuletzt die
dreiste,
allenfalls
für Juristen verstehbare Zweite-Reihe-Rechtsprechung
des
Bundesgerichtshofs, mit der die Rechtsprechung des
Psychoterror-Urteils fortgeschrieben wird.
5.
Auch das gut
gemeinte Anti-Psychoterror-Urteil
des Ersten Senats von 1995 war aus zwei Gründen inkompetent
und verfassungswidrig. Zum
einen unterliegen die Kommunikationsziele („Fernziele) von
Versammlungen den
Selbstbestimmungsrechten von
Organisatoren und Teilnehmer
von Versammlungen
und nicht der
Beurteilung durch Behörden und Gerichte, weder negativ noch positiv.
Zum
anderen lässt sich ein
Gesetz wie § 240 StGB nicht
durch richterliche
Hinzufügungen oder Weglassungen (Psychoterror
oder körperliche Kraftentfaltung) „verfassungskonform
auslegen und
anwenden“.
Das
heutige Nötigungsgesetz § 240 ist
aufzuheben bzw. zu reformieren
wie, vor allem
zur korrekten
‚Bürgerfortbildung‘, das
Gesetzespaket zu den
Tötungsdelikten § 211, §
212 und § 213 StGB.
(15)
„überpositives Recht“ statt Bestimmtheitsgebot – Lizenz zur
Willkür
Der
Inhalt des Begriffs überpositives Recht ist bis heute unklar.
In
der Regel ist damit das
sogenannte „christliche Naturrecht“ gemeint,
abgeleitet
aus den biblischen Schöpfungsmythen. .
Richter,
die sich von ihnen inspiriert fühlen, dürfen sich in schwierigen
Rechtsfragen nach ihm
richten.
Ein historisches Beispiel gab
der protestantische erste
Präsident des Bundesgerichtshofs Hermann Weinkauff, Träger
des silbernen
Treudienst-Ehrenzeichens der NSDAP. Als
er 1954
vom
Bundesverfassungsgericht aufgefordert wurde, im
Namen des BGH
Stellung zu nehmen zum Grundrecht der Gleichberechtigung von Mann und
Frau, antwortete Weinkauff
folgendermaßen:
«Der
Mann zeugt Kinder, die Frau empfängt, gebiert und nährt sie und
zieht die Unmündigen auf. […] An dieser fundamentalen
Verschiedenheit kann das Recht nicht doktrinär vorübergehen, wenn
es nach der Gleichberechtigung der Geschlechter in der Ordnung der
Familie fragt. Demgemäß bezeugen die christlichen Kirchen, unter
sich völlig übereinstimmend und in völliger Übereinstimmung mit
der klaren Aussage der Heiligen Schrift Alten und Neuen Testaments
[…] und mit der uralten Ehe- und Familienordnung der Völker, nach
der von Gott gestifteten Ordnung der Familie sei der Mann ihr Haupt.»
(zit.
nach Die Akte
Rosenburg – s.
o. S. 216)
Der
Geist sendungsbewusster
Selbstherrlichkeit
Weinkauffs,
ein
Geist, der
schon Hitler ausgezeichnet hatte, wird
sehr anschaulich in einigen seiner
programmatischen
Äußerungen.
Er
wollte
Entscheidungen seines Gerichts als
„Bruchstücke
einer großen Konfession“
(Gundling
S. 2) verstanden
wissen.
Ingo Müller, Professor des Strafrechts und Strafprozessrechts,
gibt
in seiner Studie „Furchtbare
Juristen Die unbewältigte Vergangenheit der deutschen Justiz
(ISBN. 978-3-89320-179-2) einen
Einblick
in die „Konfession“
Weinkauffs:
„Über
allen von einem demokratischen Gesetzgeber erlassenen
Gesetzen konstruierte man wie
Hermann Weinkauff,
der Präsident des Bundesgerichtshofes ausführte, «eine
letzte rechtliche Ordnung», «einen
Bereich objektiven rechtlichen Sollens, der
einer vorgegebenen Ordnung der Werte entspricht [und]
mit dem Anspruch auf schlechthinnige Verbindlichkeit
auftritt», der den
Gesetzen «erst
ihre letzte Verbindlichkeit verleiht»
oder sie gegebenenfalls «ihrer
rechtlichen Geltung entkleidet».
Die Gerichte nahmen
für sich in Anspruch, die Gesetze am «überpositiven
Recht» zu messen, und
selbst die Verfassung sollte von solcher Infragestellung der
schwer belasteten Justiz nicht verschont bleiben. Der
Bundesgerichtshof meinte nämlich, dass die «Nachprüfung,
ob Verfassungsnormen mit höheren Normen der Verfassung oder des
übergesetzlichen Rechts vereinbar sind, grundsätzlich offenstehen»
müsse.“
(I.
Müller, S. 282 f.)
Dem
Grundgesetz fehlte also nach
Ansicht seines
Senats
die
„letzte
Verbindlichkeit“.
Die bezog
man
aus
der Bibel. Die
Bedeutung des „überpositiven Rechts“ oder
„christlichen Naturrechts“ ist
ungefähr die der Berufung
auf „das
gesunde
Volksempfinden“ oder
auf
„die
allgemeine
Gerechtigkeitserwartung“
oder auf
„das
natürliche
Rechtsgefühl“ und
wie
all
die Verkleidungen seines
unbestimmten
Inhalts
lauten.
Mit
all diesen Berufungen setzen sich Richter über das positive, vom
Gesetzgeber bestimmte Recht, auch
über das Grundgesetz, hinweg.
Erst
kürzlich
hat jedoch
der
Staatswissenschaftler Lukas
Gundling eine
erneute
Auswertung
der Dokumente der Beratungen des
Parlamentarischen
Rates zum
Grundgesetz vorgestellt.
Demnach
waren
in
den Beratungen der verschiedenen Gremien 1948/49
alle
Versuche
von kirchlicher oder parteilicher Seite
(CDU,
CSU) gescheitert,
sogenanntes
„überpositives“
Recht zur Grundlage des Grundgesetzes und damit des „positiven“
Rechts zu
machen.
Gundling
teilt mit:
„Bei
einer kursorischen Betrachtung … ist zudem festzuhalten, dass im
Grundsatzausschuss in dieser Sitzung grundsätzlich eine Opposition
gegen die Verankerung von Metaphysischem im Grundgesetz artikuliert
wurde. Ein weiterer darauf zielender Versuch seitens der
CDU im Hauptausschuss (15. Dezember 1948), das
Volk nicht als Ausgangspunkt der Staatsgewalt zu manifestieren,
wurde ohne weitere Diskussion abgelehnt.“ (Gundling S. 45)
„Die
letzte Hürde musste das Grundgesetz im Plenum nehmen. Das bereits
mit der Analyse des Grundsatz- und Hauptausschusses gezeichnete Bild
findet hierbei Bestätigung. Anhand der abgelehnten Anträge (…)
und den abschließenden Erklärungen (…) kann man zumindest eine
d e u t l i c h e
A b l e h n u n g e i n e r
k o n k r e t e n
n a t u r r e c h t l i c h e n
F u n d i e r u n g des
Grundgesetzes und insbesondere der Grundrechte im christlichen
Naturrecht konstatieren – ein Umstand, der unter anderem auch durch
den Kreis derer, die das Grundgesetz schließlich ablehnten [,ZENTRUM
und die DP sowie mehrheitlich durch die CSU]
Bestätigung findet“. (Lukas
Gundling :
Ein
Naturrechtseinfluss auf das Grundgesetz?
- ISBN: 13-978-3-8382-1010-0 - S.
82, vgl. auch die Seiten
Seiten 43, 73, 82, 86, 87, 88, 89))
Dementsprechend
heißt es in Artikel 20 des Grundgesetzes auch unmissverständlich:
„(2)
Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“
Und
daran erinnert die, die davon im Grunde nichts wissen wollen, jede
‚antiautoritäre‘
Sitzblockade
in
besonderer Weise.
Die
Berufung auf sogenannt „überpositives“ Recht, ein
Refugium des Irrationalismus im ansonsten vernunftgeprägten
deutschen Strafrecht, hebt
faktisch das Prinzip der Volkssouveränität aus den Angeln. Nicht
der in Wahlen und Abstimmungen vom Volk bestellte Gesetzgeber, also
der Bundestag, bestimmt dann
über
das Recht im Staat, sondern letztlich die Justiz, was
jedoch nicht
nur laut Gundling vom
Verfassungsgeber eindeutig nicht beabsichtigt war.
Das zeigt zum
anderen der
Artikel 20 GG, und
das zeigt auch
der bereits
zitierte Artikel
103 GG in seinem zweiten Absatz:
„(2)
Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich
bestimmt war,
bevor
die Tat begangen wurde.“
Trotzdem bekannten sich kurz
nach seiner Gründung beide Senate des Bundesverfassungsgerichts
in
einer gemeinsamen Entscheidung, der sog. „Südweststaat-Entscheidung“
vom
23.10.1951, ausdrücklich
und
absolutistisch-selbstherrlich
zur
„Existenz
überpositiven“ Rechts:
„Das
Bundesverfassungsgericht erkennt die Existenz
überpositiven, auch den Verfassungsgesetzgeber bindenden Rechtes an
und ist zuständig, das gesetzte Recht daran zu messen.
(http://www.servat.unibe.ch/dfr/bv001014.html,
a.
a. O. Nr. 27)
Die
vollkommene Entwertung des Bestimmtheitsgebotes durch das
Mutlangen-Urteil des Verfassungsgerichts (s. o.) stand damit
objektiv, wenn auch vielleicht nicht bewusst, im Dienste des
Bekenntnisses zu christlich-absolutistischem „Naturrecht“,
begrifflich getarnt als „überpositives Recht“. Das
Bestimmtheitsgebot ist der stärkste und auch störendste
‚Widersacher‘ „christlichen Naturrechts“ und damit
richterlicher Willkür.
Christliches
„Naturrecht“ erklärt eine esoterische Fiktion, einen
Glaubensinhalt oder - zeitgemäß formuliert - ‚alternative Fakten‘
zur Tatsache. Damit wird aus positivem Recht fakultatives Recht. Es
kann gelten, muss es aber nicht. Es befreit die Justiz von der
Bindung an die Gesetzgebungshoheit des demokratisch kontrollierten
Gesetzgebers, der damit entwertet und ein Stück weit entmachtet wird
– ohne es zu merken.
Aber
das ist nicht der einzige solchermaßen angerichtete Schaden.
Vergessen wir doch nicht, dass eines der wichtigsten Grundrechte, das
Versammlungsrecht, teilweise außer Kraft gesetzt, und ein anderes,
den Grundrechten gleiches Recht, das Rückwirkungsverbot und
Bestimmtheitsgebot
als nicht ernst zu nehmen preisgegeben wurde. Was geschieht dann erst
bei einem sog. „Staatsnotstand“ mit dem Rechtsstaat? Für
ihn
wurden im
Jahr 1968 von der ersten Großen Koalition aus CDU und SPD mit das
Grundgesetz verändernder Bundestags-Mehrheit
die sog. „Notstandsgesetze“ geschaffen.
Im
Jahr 1956 hat
der
Bundesgerichtshof laut
Die
Akte Rosenburg (S.
20) die
Überzeugung vertreten,
es
gebe ein
„Recht
des Staates auf Selbstbehauptung“,
und
dieses Recht habe auch das Dritte Reich gehabt. Das
war lutherisch gedacht, steht
doch
im
Neuen Testament:
„Jedermann sei untertan der
Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit
außer von Gott“?
(Paulus,
Römer 13).
Auch
das ist „christliches
Sittengesetz“,
auf das sich z.
B. die
Landesverfassung Baden-Württembergs von
1953 in
Art. 1 ausdrücklich
beruft,
also „überpositives Recht“, das
vermeintlich noch über den Grundrechten steht.
Ein
„Recht
des Staates auf Selbstbehauptung“,
auch
wenn er
kein
Rechtsstaat, sondern ein Staat der Willkür ist,
der Willkür nach innen oder
nach
außen, z.
B.
ein
mörderischer Staat, hat
er ein Existenzrecht wie die Menschen Menschenrechte haben?
Der
‚Vater‘ der Notstandsgesetze, der damalige Bundesinnenminister
und spätere Vorsitzende des Ersten Senats des Verfassungsgerichts
Ernst
Benda,
der 1977 die lebenslängliche Gefängnisstrafe billigte (s. o.), wie
Roman Herzog bekennender, um nicht zu sagen militanter Protestant,
äußerte
in vertrautem Kreise, er glaube nicht, dass der Rechtsstaat sich im
Falle des Staatsnotstandes aufrecht erhalten ließe. Aus
solchen Zweifeln heraus wurde mit den Notstandgesetzen auch Art. 20
GG ein Recht auf Widerstand eingefügt:
„(4)
Gegen jeden, der
es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das
Recht zum Widerstand,
wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“
Wie
aber soll das funktionieren, wenn die Mächtigen nach
vermeintlich
‚göttlichem
Recht‘ auch
Grundrechte außer
Kraft setzen?
Der
Staat ist keine ‚göttliche
Person‘ mit einem eigene
Recht oder der
Pflicht zur „Selbstbehauptung“ gegen das
Volk. Die
Beseitigung des
Rechtsstaats, um den
Staat zu retten, ist
keine ultima ratio, sondern
der ultimative
Irrationalismus. Der
Staat an sich hat
kein Existenzrecht und kein
Recht auf Selbstbehauptung.
Es sind die
Menschen, die einem
Staat das Existenzrecht geben
oder es
ihm nehmen, und
zwar sowohl die Menschen in
dem Staat wie die Menschen außerhalb des Staates. Auch
die haben als
Betroffene ein Wörtchen
mitzureden.
Was
tun wir gegen eine schleichende Beseitigung der freiheitlichen
Ordnung von oben? Was tun wir gegen obrigkeitliche Selbsthilfe?
Einfach gewähren lassen?
II.
HAUPTTEIL
- JUSTIZGESCHICHTE
UND
RELIGION
(16)
Luther und das christliche „Naturrecht“
Warum
gefährden in den Augen der Staatsorgane ausgerechnet demonstrativ
wehr-, gewalt- und selbstlose Kämpfer für die Rechte der Bürger
auf Frieden und Freiheit den Staat? Denn wenn sie es in ihren Augen
nicht täten, hätten Richter wohl kaum so ungeniert Recht gebeugt
und sich damit über das Grundgesetz gestellt. Wohlgemerkt: Nicht
Sitzblockaden sind grundgesetzwidrig, sondern ihre bei uns übliche
Bestrafung ist es. Nicht Sitzblockaden sind Akte nicht erlaubter
„Selbsthilfe“, sondern die genannten Rechtsbeugungen durch
höchste Gerichte, insbesondere den BGH, und deren Duldung und
Rechtfertigung durch das Verfassungsgericht.
Das
wirft die Frage auf: Steht das deutsche Verfassungsgericht über dem
Grundgesetz und den Bürger- und Menschenrechten oder auf seinem
‚Boden‘? Ist das Grundgesetz für es und unsere
„Leitkultur“ nur eine Monstranz für Gläubige oder
eine Gebrauchsanleitung für Demokratie und Rechtsstaat? Oder
folgt auch das Verfassungsgericht heute noch dem christlichen
Glauben, es gebe ein „überpositives“, ein über dem
geschriebenen, also auch über dem Grundgesetz schwebendes,
ungeschriebenes, höheres, verbindliches, göttliches
Recht? Dieser Frage soll in diesem zweiten Teil der Studie mit
einem nochmaligen Rückblick in die Rechtsgeschichte nachgegangen
werden.
(17)
Der katholische Nationalsozialist Carl Schmitt – mitten unter
uns?
Der
fromme Katholik Carl Schmitt
war
der wohl einflussreichste Staatsrechtsdenker und eine politische
Schlüsselfigur des 20. Jahrhunderts. Als junger, umfassend
gebildeter
Rechtslehrer
an
der Universität hat
Carl
Schmitt nacheinander zuerst
Regierungen
der Weimarer Republik, sodann
als deren „Kronjurist“ die Regierung des Dritten Reichs und
schließlich –
heimlich –
die
Bundesregierung unter Kurt Georg Kiesinger (1966-1969) beraten
dürfen.
Seine
Schriften wurden auch bei der Vorbereitung
der Staatsgründung
Israels zu Rate gezogen. Auch
Rudolf Augstein, der Begründer des SPIEGEL, hat sich von
ihm
beraten lassen.
Selbst
in der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts spielte
er heimlich
eine Rolle.
Schmitt ist also
noch
mitten unter uns.
Rechtfertigung
des elitären Führerprinzips
Am
Tag nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler notierte Schmitt in
seinem Tagebuch noch seine „Wut
über den dummen, lächerlichen Hitler.“
(zit. nach Wikipedia). Nach dessen Machtantritt bekam der von sich
selbst überzeugte, ehrgeizige und
prominente Universitätslehrer
des Staatsrechts jedoch schnell die Kurve. Er
stimmte ein in den Chor der Verherrlicher Hitlers und legitimierte
mit seiner Autorität die Diktatur. Er
vertrat z.
B. die
Auffassung:
„Der
Führer schützt das Recht vor dem schlimmsten Missbrauch, wenn er im
Augenblick der Gefahr kraft seines Führertums als oberster
Gerichtsherr
unmittelbar Recht schafft.“ oder „Der
wahre Führer ist immer auch Richter.“
und schließlich „Der
Wille des Führers ist Gesetz.“ (zit.
nach Wikipedia)
Mit
seiner Rechtfertigung der Diktatur legitimierte er zugleich die
Beseitigung der Gewaltenteilung. Darin wie auch in seinem erst
während des Dritten Reichs von ihm entdeckten Antisemitismus folgte
ihm dann auch der Staatsrechtler Theodor Maunz, der geistige Vatger
von Roman Herzog (s. o.).
Fiktion
eines „Selbsterhaltungsrechts“ des absoluten Staates über Gesetz
und Recht hinweg
Bereits
im Jahr 1922, also nur zwei Jahre nach der Abdankung des Kaisers und
der Fürsten im Zuge der November-Revolution von sozialistischen
Arbeitern und Soldaten und der Ausrufung der sozialdemokratischen
Weimarer Republik hatte der Staatsrechtslehrer Schmitt die
theoretische Grundlage für ein Recht auf Außerkraftsetzung und
Missachtung geltenden Rechts formuliert. Damit kommen wir der
Rechtsbeugung des Ersten Senats schon näher. Bezogen auf den Fall
eines vermeintlichen bzw. angeblichen „Staatsnotstandes“, wie
Schmitt ihn mit dem Zusammenbruch des Kaiserreichs nach der
Niederlage im Ersten Weltkrieg gegeben sah, urteilte er:
«Ist dieser Zustand eingetreten, so ist klar, dass der Staat bestehen bleibt, während das Recht zurücktritt. … die Entscheidung macht sich frei von jeder normativen Gebundenheit [Gesetzen] und wird im eigentlichen Sinne absolut. Im Ausnahmefall suspendiert der Staat das Recht kraft eines Selbsterhaltungsrechts.» (Schmitt, „Politische Theologie“, 1922, zit. nach Ingo Müller: „Furchtbare Juristen ...“, S. 60)
Auch „Der BGH erklärte … 1956, Ausgangspunkt bei der
strafrechtlichen Schuld müsse das «Recht des Staates auf
Selbstbehauptung» sein.“ (Die Akte Rosenburg S. 20)
Zu
den historischen Ursprüngen dieser Theologie hier nur so viel: Der
Kaiser und die Fürsten „von Gottes Gnaden“ waren wie gesagt
gerade durch die Novemberrevolution sozialistischer Arbeiter und
Soldaten und die folgende sozialdemokratische Ausrufung der Weimarer
Republik 1918/19 zur Abdankung gezwungen worden. Das verziehen die
christlichen Anhänger der Monarchie, voran die von Bismarck heran
gezogene Kaste christlicher deutscher Richter (vgl. Ingo Müller, a.
a. O., Eingangskapitel) den Sozialisten und Sozialdemokraten nicht.
Wie der Weltkriegsgefreite Hitler sah Professor Schmitt in der
Republik ohne den Kaiser den Staat in Not, was besondere
Maßnahmen rechtfertigte. So formulierte er mit seiner ersten
bedeutenden Veröffentlichung unter dem Titel „Politische
Theologie“ ein über Gesetz und Recht stehendes
„Selbsterhaltungsrecht“ des Staates.
Notwendigkeit
der Vernichtung des Feindes, weil ethische Postulate „nicht
verhandelbar“
Mit
seiner zweiten bedeutenden Schrift „Der
Begriff des Politischen“
im Jahr 1927 machte Schmitt
laut Ingo Müller, den ich hier zitiere, das im 19. Jahrhundert
zurückgedrängte und scheinbar überwundene politische
Freund-Feind-Denken
erneut
gesellschaftsfähig.
Schmitt
unterschied drei Stadien von politischer Feindschaft: erstens
den „konventionellen“
Feind, der nur einen bestimmten Aspekt des
Zusammenlebens in
Frage stelle
und sich an Rahmen-konventionen halte.
Mit
ihm sei ein „gehegter“, also begrenzter Krieg möglich; zweitens
den „wirklichen“
Feind, der bereits den Rahmen selbst, z.B. das Völkerrecht, in Frage
stelle; drittens den „absoluten“
oder „totalen“Feind,
mit dem keine Vereinbarungen mehr möglich seien und der deswegen
vernichtet
werden müsse, wenn
es um nicht verhandelbare Werte gehe.
Feindschaft
bedeutete
also für Schmitt die Bereitschaft, den Gegner, das „Böse“,
nicht nur zu besiegen, sondern zu vernichten.
Ingo
Müller zitiert Schmitt:
„[Für
ihn war die] «spezifisch politische Entscheidung… die
Unterscheidung von Freund und Feind…, der politische Feind ist
eben der andere, der Fremde, und es genügt seinem Wesen… daß
im extremen Fall Konflikte mit ihm möglich sind, die weder durch
eine im Voraus getroffene generelle Normierung, nicht durch den
Spruch eines Unbeteiligten und daher unparteiischen Dritten
entschieden werden können».¨ [Die Begriffe] «Freund,
Feind und Kampf» [erhalten] „«ihren realen
Sinn dadurch, dass sie insbesondere auf die reale Möglichkeit der
physischen Tötung Bezug haben und behalten». “ (Carl
Schmitt, „Der Begriff des Politischen“ [1927] zit. nach
Ingo Müller, Furchtbare Juristen … S. 17)
Dann
aber plauderte
Schmitt, der Soziologe
und verhinderte
Theologe, aus der Schule:
„Wird
der Feindbegriff in einem solchen Sinne total, [dann] wird die
Sphäre des Politischen verlassen und die des Theologischen betreten,
also die Sphäre der letzten, nicht mehr verhandelbaren
Unterscheidung, … weil ethische Postulate, da sie grundsätzlich
nicht verhandelbar sind, zur „theologischen Sphäre“ gehören.“
(Schmitt laut Wikipedia)
Schmitt
erklärte so, 16 Jahre, bevor er offiziell begann, den „totalen
Krieg“ als religiösen Krieg. Politische Feindschaft ist für
ihn, den Fachmann und Christen, letztlich religiös.
(18)
Otto Dibelius und der religiöse Krieg
Otto
Dibelius, der nach dem Krieg als Bischof und Vorsitzender des Rates
der EKD (Evangelische Kirche Deutschlands) mit Abstand
einflussreichste Vertreter des Protestantismus, war ursprünglich ein
Berliner Pfarrer. In der Weimarer Republik hatte er der DNVP
(Deutsch-nationale Volkspartei) angehört, die dann in der NSDAP
aufging. Nachdem die Nationalsozialisten bei den Reichstagswahlen im
März 1933 nur 43 Prozent der Stimmen erhalten hatten, verhalf ihnen
die DNVP zur für die halbwegs legale Regierungsbildung
erforderlichen Mehrheit.
Den
Ersten Weltkrieg hatte Dibelius noch als Kampf
für „die
Siegeszeichen Christi“
verstanden, und seine Zeit als „korporierter“ Student fasste er
zusammen, er habe „im
Kampf gegen Judentum und Sozialdemokratie
gestanden.“(https://de.wikipedia.org/wiki/Otto_Dibelius)
Kurz nach dem Wahlsieg von NSDAP und DNVP im Jahr 1933 hatte er in
einem vertraulichen Schreiben an die ihm unterstellten Pfarrer
geschrieben:
„Ich habe mich … immer als Antisemiten gewußt. Man kann nicht verkennen, daß bei allen zersetzenden Erscheinungen der modernen Zivilisation das Judentum eine führende Rolle spielt …“ (zit. nach Wikipedia)
Am
21. März 1933, dem „Tag von Potsdam“, hielt er vor
evangelischen Reichstagsabgeordneten und hohe Nazis einen
bemerkenswerten Dankgottesdienst ab, in dem er sich - aufschlussreich
und hilfreich gerade für die Nationalsozialisten - auf Martin Luther
berief:
„Durch Nord und Süd, durch Ost und West geht ein neuer Wille zum deutschen Staat, eine Sehnsucht, nicht länger ... einer der erhabensten Empfindungen im Leben eines Mannes‘ zu entbehren, nämlich den begeisterten Aufblick zum eigenen Staat. ...Wir haben von Dr. Martin Luther gelernt, dass die Kirche der rechtmäßig staatlichen Gewalt nicht in den Arm fallen darf, wenn sie tut, wozu sie berufen ist. Auch dann nicht, wenn sie hart und rücksichtslos schaltet. Wir kennen die furchtbaren Worte, mit denen Luther im Bauernkrieg die Obrigkeit aufgerufen hat, schonungslos vorzugehen, damit wieder Ordnung in Deutschland werde. Aber wir wissen auch, dass Luther mit demselben Ernst die christliche Obrigkeit aufgerufen hat, ihr gottgewolltes Amt nicht zu verfälschen durch Rachsucht und Dünkel, dass er Gerechtigkeit und Barmherzigkeit gefordert hat, sobald die Ordnung wiederhergestellt war.“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Otto_Dibelius / https://www.google.de/?gws_rd=ssl#newwindow=1&q=Otto+dibelius+tag+von+potsdam
Hermann
Göring, einer der einflussreichsten Weggefährten Hitlers, war
dabei, wie Hitler und Reichspräsident Hindenburg, und bedankte sich
nachher artig bei Dibelius. Das sei die beste Predigt gewesen, die er
je gehört habe. Das allein ist wohl Veranlassung genug, in Zeiten
des neuen Lutherkults doch einmal etwas genauer hinzuschauen, was der
Schutzpatron des Protestantismus tatsächlich vertreten hat und wovon
die evangelische Kirche sich bis heute nicht nachhaltig und
überzeugend distanziert hat. Es war Dibelius, der mich zu Luther
führte.
(19)
Luthers
Politik
Luther
sah sich und seine Anhänger umgeben von vier
Feinden. An erster
Stelle stand zweifellos die verweltlichte
päpstliche
Kirche,
die er im Materialismus und seinen vielfältigen Erscheinungsformen
erstarrt und als Hindernis auf dem Weg zu Gott sah. Sie hatte
„Zweifler“ wie ihn schon verbrannt.
An
zweiter Stelle kamen die revolutionären Bauern als
‚innerer Feind‘, als „Verräter“, die zu vom Evangelium und
von Luther nicht erlaubter „Selbsthilfe“ gegenüber der
nach christlicher Lehre stets gottgewollten Obrigkeit griffen.
An
dritter Stelle rangierten die Türken als Vertreter des Islam,
die 1529 vor Wien standen und als Glaubenskonkurrent das „Heilige
Römische Reich Deutscher Nation“ bedrohten. Vor ihnen und
ihrer Angst einflößenden religiösen Disziplin hatte er einen
geradezu ehrfürchtigen Respekt. Den relativen Kriegserfolg der
Osmanen sah Luther sogar als ein Gotteszeichen für das kurz
bevorstehende Weltende und das „Jüngste Gericht“.
An
vierter Stelle lösten die Juden seinen Hass aus. Drei Jahre
vor seinem Tod rief Luther zu einem Judenpogrom auf. Er war
keineswegs ein Prophet des Friedens, er war kein ‚Lamm‘, sondern
das „Schwert Gottes“.
Gegen
die päpstliche Kirche setzte er nicht auf physische Gewalt, wie
diese umgekehrt es tat, und er riet von Gewalt ab. Da hätten die
Obrigkeiten bis hinauf zum Kaiser auch nicht mitgemacht. Ihnen
gegenüber setzte er allein auf die Macht des Wortes. Er war
überzeugt:
„Ich
bin jedenfalls sicher, dass mein Wort nicht mein, sondern Christi
Wort ist.“ (vgl. Karl-Heinz Göttert, Martin Luther
Das große Lesebuch, Fischer-Taschenbuch 2016, S. 211).
„Gegen
die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern“ -
Luthers Pogromaufruf gegen aufständische Bauern
Am
wütendsten und unbarmherzigsten war Luthers Urteil über Bauern, die
sich am deutschlandweiten, vom Schwarzwald bis nach Sachsen
reichenden Bauernkrieg beteiligten. Ausgerechnet auf diesen
Pogromaufruf berief sich dann Otto Dibelius 400 Jahre später,
als er zur Begeisterung Hermann Görings die Nationalsozialisten zu
ihrem „Werk“ ermutigte (s. o.).
Zur
allgemeinen Lage der Bauern zur Zeit Luthers:
Der
Adel hat sich nach und nach früheren Gemeinbesitz angeeignet,
so dass vormals freie Bauern nun für das Jagen in den vormals allen
gehörenden Wäldern, das Fischen in den allen gehörenden Gewässern,
das Weidenlassen von Tieren in den Auen oder das Schlagen von Holz in
den Wäldern mit Abgaben, Frondiensten oder Leibeigenschaft bezahlen
müssen.
Dem
setzen im Jahr 1525 Abordnungen von Bauern in den berühmten 12
Memminger Artikeln einen Katalog von Forderungen an den
„Schwäbischen Bund“, einen Zusammenschluss von Fürsten, Adel
und Reichsständen, entgegen. Zu den Memminger Artikeln heißt es in
Wikipedia:
„Sie
gelten als die erste Niederschrift von Menschen und Freiheitsrechten
in Europa, und die zu den Zwölf Artikeln führenden Versammlungen
gelten als erste verfassungsgebende Versammlung auf deutschem
Boden."
„Ein
direkter Vergleich mit der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung
von 1776 liefert durchweg einige Entsprechungen in den Motiven und
der Umsetzung im Text. Auch in den Ergebnissen der ab 1789
einsetzenden Französischen Revolution in Form eines neuen, modernen
Staatsgebildes, nämlich der Republik, lassen sich durchaus einige
Punkte der Forderungen als umgesetzt wiedererkennen.“
(https://de.wikipedia.org/wiki/Deutscher_Bauernkrieg)
Luther
kannte die Artikel, als er noch im gleichen Jahr seine „lieben
Deutschen“ zur Lynchjustiz gegen aufständische Bauern
aufforderte. Es war wohl gleich der erste der Memminger Artikel,
durch den er sich besonders provoziert sah, denn die Bauern beriefen
sich auf die Bibel:
Artikel
1 der 12 Memminger Artikel:
„Ist
der Brauch bisher gewesen, dass man uns für Eigenleute (Leibeigene)
gehalten hat, was
erbärmlich ist in Anbetracht dessen, dass
Christus uns alle
mit seinem
kostbaren Blut
[Kreuzigung]
erlöst und freigekauft
hat, den Hirten wie
den Höchsten, keinen ausgenommen. Die [Heilige]
Schrift sagt also, dass wir
frei sind und sein wollen.“
Genau
das konnte Luther, der im Luther-Jahr 2017 als Prophet der Freiheit
gefeiert wurde, zwar nachvollziehen, aber nicht zulassen: dass die
Bauern frei und ihre eigenen Herren sein wollten und sich dazu auch
noch auf die Bibel beriefen. Schon Paulus (s. o.) hatte die absolute
Unterordnung der Christen unter die jeweilige Obrigkeit gefordert,
und außerdem brauchte Luther die Obrigkeiten. So erklärte er die
Berufung der Bauern auf die Bibel für opportunistisch und teilte den
Obrigkeiten mit:
„Sie haben zwölf Artikel aufgestellt, unter denen einige so gerecht sind, daß sie euch vor Gott und der Welt zur Schande gereichen. Doch sie sind fast alle auf ihren Nutzen und ihnen zugut abgestellt ...“(https://de.wikipedia.org/wiki/Zw%C3%B6lf_Artikel )
Bereits
1520 hatte er in seiner Grundsatzschrift „An den christlichen
Adel deutscher Nation“ zum Verhältnis von Obrigkeit und Volk
festgestellt:
„Weil
die weltliche Gewalt von Gott angeordnet ist, die Bösen zu bestrafen
und die Frommen zu beschützen, soll man ihr Amt ganz unbehindert den
gesamten Körper der Christenheit ohne Ansehen der Person regieren
lassen ...“. (zit.
nach Göttert S. 92)
Zwei
Jahre später, die Bauern hatten notgedrungen keine Ruhe gegeben,
wurde er deutlicher und bezog sich in seiner Schrift „Eine treue
Ermahnung an alle Christen“, sich vor Aufruhr und Empörung zu
hüten“, direkt auf den verbreiteten Aufruhr:
„Denn
bei Aufruhr gibt es keine Vernunft, er trifft gewöhnlich mehr die
Unschuldigen als die Schuldigen.“(Göttert S. 207)
Noch
einmal drei Jahre später folgte dann als Antwort auf die 12
Memminger Artikel sein fundamentalistischer und fanatischer Aufruf
zum Pogrom und zur Lynchjustiz „Gegen die räuberischen und
mörderischen Rotten der Bauern“ (1525):
„Über
einen öffentlichen Aufrührer ist jeder Mensch sowohl Oberrichter
wie Scharfrichter [Henker]. …
Aufruhr bringt für ein Land Mord und Blutvergießen mit sich,
erzeugt Witwen und Waisen und zerstört als das allergrößte Unglück
alles. Deshalb soll in diesem Fall erschlagen, würgen und stechen,
heimlich oder öffentlich, wer nur kann, und sich dabei bewusst sein,
dass es nichts Schädlicheres, Giftigeres, Teuflischeres gibt als
einen aufrührerischen Menschen, wie man auch einen tollen Hund
totschlagen muss. … Die Obrigkeit, die ohne vorheriges
Angebot diese Bauern schlagen und strafen kann und will,
möchte ich nicht daran hindern, auch wenn sie damit das Evangelium
nicht befolgt.“ (Luther 1525 in „Gegen die räuberischen
und mörderischen Rotten der Bauern“, zit. nach Göttert S. 322
ff.)
Luther
erlaubte also den Obrigkeiten, sich in der Verfolgung von Aufrührern
nicht an das von ihm doch so vehement und militant propagierte
Evangelium zu halten. Damit stellte er im Grunde genommen den Staat
nicht nur über das Volk, sondern sogar über Gott, und sich selbst
noch einmal drüber. Luther stand gewissermaßen Modell für Fausts
„Pakt mit dem Teufel“ und Konrad Adenauer sprach 1945 nicht ohne
Grund von einer deutschen „Vergötzung“ des Staates.
Dieser
Gedanke hat dann offensichtlich nicht nur den Katholiken Carl
Schmitt, sondern auch den ersten Präsidenten des Bundesgerichtshofs
Hermann Weinkauff beherrscht: Wenn es drauf ankommt, gilt mein
Gesetz, nicht eures. Als Weinkauff sich in seiner selbstherrlichen
‚überpositiven‘ Schwärmerei über die Erleuchtung der
Bundesrichter verbreitete, hatte er in Luther ein Vorbild.
Es
war Luthers ‚Lizenz zum Töten‘, auf die sich noch 400 Jahre
später auch der protestantische Landesbischof Dibelius gegenüber
Hitler berief.
Die
Obrigkeiten haben sich da natürlich nicht lange bitten lassen. In
Massakern schlugen sie die Aufstände der Bauern nieder, wovon die
Bauern sich nie erholt haben. Schließlich hatte Luther die
Obrigkeiten ja ausdrücklich ermächtigt, dabei auch das Evangelium
Evangelium sein zu lassen und nach Herzenslust den Teufel und den
Terror zu geben bis hin zur Verbrennung lebender Menschen.
Die
„Heerpredigten
wider den Türken“
-
Aufruf
zum Kriegseinsatz
gegen
die muslimischen Osmanen
In
seiner ersten militanten „Heerschrift
wider den Türken“
vergleicht er in vermeintlich „sanfter
Barmherzigkeit“
verächtlich seine „Lieben
Deutschen“,
die daheim um das Leben oder auch Überleben ihrer Familien kämpfen,
aber dafür seiner Meinung nach Strafe verdient haben, plastisch mit
satten Säuen:
„Und
ich kenne doch bestens meine lieben Deutschen, die
vollen Säue.
Die sollen sich jetzt wieder, wie sie es immer tun, ruhig hinsetzen
und wohlgemut in aller Sicherheit zechen und es sich gut gehen
lassen. Und sie glauben, sie brauchen die große Gnade, die ihnen
erwiesen
worden
ist, gar nicht; sondern sie vergessen das mit aller Undankbarkeit,
und sie denken: Ha! Der Türke ist nun weg und geflohen, was sollen
wir viel sorgen und unnützes Geld ausgeben? Er kommt vielleicht
nimmermehr wieder. Diese Leute haben eine gerechte Strafe von Gott
redlich verdient.“ (Luther,
„Heerpredigt
wider den Türken“
1,5, http://www.martinluther.dk/tyrk3.html)
Ein
zufriedenes oder gar glückliches Leben ist für Luther Sünde, und
es verdient Strafe. Richtig wäre für ihn, den neuen Propheten:
„Ich
wünsche mir, dass alle Deutschen sich weder einen Flecken noch ein
Dorf plündern oder nehmen ließen, sondern dass Jung und Alt, Mann
und Weib, Knecht und Magd sich in Gehorsam gegenüber der Obrigkeit
so lange wehren, bis alle tot sind, und dass sie dazu auch Haus und
Hof abbrennen und alles vernichten, dass die Türken nichts mehr
vorfinden, und dabei zu Gott beten und alles seiner Gnade empfehlen.
(„Heerpredigt“ 2,13)
Es
wäre besser, dem Türken ein leeres Land zu hinterlassen. … Wenn
wir gefangen genommen werden, geht es uns viel schlechter, denn es
besteht die Gefahr, dass wir in der Türkei vom christlichen Glauben
abfallen, den türkischen Glauben annehmen und damit zur Hölle
fahren.“ („Heerpredigt“2,14 -
http://www.martinluther.dk/tyrk4.html)
Bereits
Luther entwickelte also die Methode der 400 Jahre später von den
Nationalsozialisten in Russland praktizierten Strategie der
„verbrannten Erde“.
„Von
den Juden und ihren Lügen“ (1543) – Aufruf zum Pogrom gegen
die Juden
Hier
zunächst wieder einige
Zitate:
„Kein
blutdurstigeres und rachgierigeres Volk hat die Sonne je beschienen
als diejenigen, die glauben, sie seien Gottes Volk, weshalb sie die
Heiden morden und würgen dürfen.“ (Göttert
S. 467)“ „Denke
doch, wie kommen wir armen Christen dazu, dass wir ein solches
faules, müßiges Pack, ein solch unnützes, böses, schädliches
Volk, solche lästerlichen Feinde Gottes umsonst ernähren und reich
machen sollen ...?“ (Göttert
S. 477) „Genau
wie die Italiener [Papst
und Vatikan]
ebenfalls glauben, sie allein seien Menschen, alle Welt dagegen
Untermenschen, Federvieh oder Mäuse gegen sie.“ (
Göttert S. 450)„Ich
habe viele Geschichten gelesen und gehört von den Juden, die mit
diesem Urteil übereinstimmen. Nämlich wie sie Brunnen vergiftet,
heimlich gemordet, Kinder gestohlen haben … Genauso, dass ein Jude
dem anderen übers Feld einen Topf voll Blut, auch von einem
Christen, zugeschickt hat. Genauso, dass sich in einem Fass Wein,
als es ausgetrunken war, ein toter Jude am Boden fand.“
(Göttert S. 478)
„Wir
müssen mit Gebet und Gottesfurcht eine scharfe
Barmherzigkeit
üben, wenn wir überhaupt einige [Juden]
aus Flammen und Glut
[Hölle]
retten können. Rächen dürfen wir uns nicht, denn sie haben die
[göttliche] Rache am
Halse, tausendmal schlimmer, als wir es ihnen wünschen.“
(Göttert S. 468)
Auf
weit über hundert endlosen Seiten hetzt Luther Volk und Obrigkeit
auf gegen die Juden als angebliche Herrenmenschen und Parasiten, um
schließlich zum Programm des gewünschten Pogroms zu kommen:
„Erstens,
dass man ihre Synagogen oder Schulen mit Feuer anzünde und,
was nicht verbrennen will, mit Erde überhäufe und zuschütte, so
dass auf Ewigkeit kein Mensch einen Stein oder Schlacke davon zu
sehen bekommt. …
Zweitens,
dass man genauso ihre Häuser abreiße und zerstöre …, so
dass sie merken, dass sie nicht Herren in unserem Lande sind ...
Drittens,
dass man ihnen ihre Gebetbücher und den Talmud wegnehme …
Fünftens,
dass man den Juden das Wegerecht ganz und gar aufhebe … sie sollen
einfach zu Hause bleiben. …
Siebtens,
… sie für immer aus dem Land vertreiben.“
(Göttert S. 468 – 473)
Bereits
Luther hätte also die
Juden am
liebsten
aus
seinem
Deutschland,
dem
„Heiligen
Römischen Reich Deutscher Nation“, dem für
ihn eigentlichen
„heiligen
Land“, vertrieben,
und der Grund war religiöser Natur. Es ging um die Frage, an wessen
Wesen sollte die Welt genesen, am jüdischen oder am christlichen?
Die
Nationalsozialisten haben
es
dann
umgesetzt.
Erste
Etappe Entrechtung und Vertreibung
der Juden aus
dem eigenen Gesichtsfeld.
Das
änderte
sich 1939
mit
dem Beginn
des Krieges. Man
wollte möglichst
die
Welt erobern. „Heute
gehört uns Deutschland, morgen die ganze Welt.“
hieß es in einem Lied der SA. Dort
hätte man aber
wieder
Juden gegenüber
gestanden.
Da
lag es nahe, den Konkurrenten um die Auszeichnung, das von Gott, der
Vorsehung oder auch von sich selbst „auserwählte“ Volk zu sein,
gleich physisch zu „beseitigen“. Das
Ziel blieb, aber die Methode musste
geändert werden: Statt bloßer Vertreibung mit den Mitteln des
Terrors nun Vernichtung des Konkurrenten um
das Paradies.
Was
Luther sich nur
gewünscht,
aber in religiöser Disziplin noch
nicht
zu propagieren gewagt hatte: Die
Nationalsozialisten erfüllten sich den christlichen Wunsch.
Luthers
Glaube
an
„scharfe
Barmherzigkeit“ -
ein
Programm der Empathielosigkeit
Das
rätselhafteste Phänomen des deutschen Nationalsozialismus ist wohl
und war jedenfalls für mich immer der Mangel an Empathie und
Verantwortungsgefühl gegenüber den Juden. Wie konnten unsere
Eltern und Großeltern, wie konnten Millionen deutscher Christen dem
Leiden der Juden gegenüber so passiv, so kalt sein und viele
Christen ebenso kalt Juden geschäftsmäßig und geschäftstüchtig
vernichten?
Ich
denke, Luthers Schriften bieten Ansätze der Erklärung. Sein Pogrom
und Programm der „scharfen Barmherzigkeit“ gegenüber den
Juden war ein Programm der Erziehung zu Empathielosigkeit.
Es
gibt in der Natur, und zu der gehört auch die menschliche
Gesellschaft, zwei Prinzipien oder Gesetze, die im Kampf miteinander
liegen, jedoch im Sinne der Stabilität in einem ausgewogenen, in
einem Win-Win-Verhältnis stehen sollten: das Prinzip der Konkurrenz
und das Prinzip der Solidarität.
Ohne
Konkurrenz, d.h. begrenzte, um es mit Carl Schmitt zu sagen,
„gehegte“ Feindschaft gibt es keine Solidarität, denn es ist
Konkurrenz, die Verfolgung des eigenen Vorteils oder Siegs, die
Solidarität erst erforderlich macht und hervorruft, um Vernichtung
zu verhindern.
Ohne
Solidarität gibt es jedoch auch keine Konkurrenz, keine „gehegte
Feindschaft“. Wenn jedoch in der Konkurrenz nicht auch das Prinzip
der Solidarität als „Einhegung“ steckt, wird aus Konkurrenz
„feindliche Übernahme“ und Vernichtung. Das gilt auf
gesellschaftlicher und geistiger, also auch religiöser Ebene nicht
anders als auf wirtschaftlicher oder militärischer.
Eine
Gesellschaft mit zu wenig oder gar keiner Solidarität wird von Angst
bzw. Ängsten regiert, z.B. vor dem Konkurrenten, der, ob zurecht
oder zu unrecht, als Feind gesehen wird. Angst aber macht eng,
undurchlässig, und Empathielosigkeit ist eine Form der emotionalen
und intellektuellen Undurchlässigkeit. Der Andere wird –
‚sicherheitshalber‘ – gleich erst einmal als Feind angesehen,
der die eigene Zukunft vernichten will oder wird.
Wer
Solidarität lebt, lässt Konkurrenz jedoch zu. Wer Solidarität
nicht lebt, kann auch Konkurrenz, die ethisch gehegte „Feindschaft“,
nicht durchlassen und zulassen. In weltweiter Konkurrenz sollte also
immer das Prinzip der Solidarität sichtbar bleiben, wie auch in
weltweiter Solidarität stets das Prinzip der Freiheit zur Konkurrenz
und Selbsthilfe zur Geltung kommen sollte. Es ist nicht ‚gehegte‘
religiöse Konkurrenz, die Feindschaft weckt und den Willen zur
Vernichtung, die Vernichtung des Konkurrenten, um Platz im Himmel zu
gewinnen.
Luthers
Gleichnis vom gottlosen Menschen und der glücklichen Sau - das Leben
als Buße
In
seinem Aufruf zu einem Judenpogrom bringt Luther seine Seelennot und
seine eigenen Ängste in einem geradezu anrührenden Gleichnis zum
Ausdruck. Es geht um sein persönliches Seelenheil und seinen
persönlichen Platz im Paradies:
„Wenn
ich alle Macht der Welt besäße oder augenblicklich der türkische
Kaiser oder Messias wäre, wie es die Juden selbst zu werden hoffen,
wollte ich immer noch eine Sau sein. Denn zu was wäre mir das
alles nütze, solange ich all dessen nicht eine einzige Stunde sicher
sein könnte. Es bliebe ja immer noch die grauenhafte Last und
Plage aller Menschenkinder, der Tod, vor dem ich nicht sicher
bin, sondern jeden Augenblick mich vor ihm fürchten muss, weiter vor
der Hölle und Gottes Zorn zittern und beben müsste, und das alles
kein Ende nähme … Und ich weiß, wer jemals des Todes
Schrecken oder Last gefühlt hat, der würde ebenfalls lieber eine
Sau sein, ehe er diesen Jammer immer weiter tragen wollte.
Denn
eine Sau liegt in ihrem Flaumfederbett, auf der Gasse oder auf dem
Misthaufen, ruht sicher, schnarcht sanft, schläft süß und fürchtet
weder König noch Herrn, weder Tod noch Hölle,
weder Teufel noch Gottes Zorn. Sie lebt so ganz
ohne Sorge, denkt an nichts, wenn nur Kleie da ist. … Sie hat eben
nicht von dem Apfel gegessen, der uns elende Menschen im Paradies den
Unterschied von Gut und Böse gelehrt hat.“
(Luther
„Von den Juden und ihren Lügen“ im Jahr
1543, Göttert S. 495 f.)
Luther
war Zeit seines Lebens geprägt und getrieben von Ängsten: als Kind
von Angst vor dem strengen Vater und seinen Prügeln und als
christlicher Mönch von Angst vor der Rache Gottvaters für
mangelhafte Unterwerfung unter seinen Willen bis
hin zu erzwungener „Liebe“, die
in Wahrheit Furcht heißt. So
heißt es in der baden-württembergischen
Landesverfassung in
Art. 12, wie
unsere
Kinder und Jugendlichen an den Schulen erzogen werden sollen:
„Die
Jugend ist in Ehrfurcht vor Gott, im Geiste der christlichen
Nächstenliebe … zu erziehen.“
Ehrfurcht
ist eine Form der Furcht, zum Beispiel der der Untertanen gegenüber
dem Fürsten, der alle Gewalt über sie hat, ausdrücklich auch im
Namen Luthers, wie es die verzweifelten Bauern zu spüren bekamen.
Die Bauern sollten lernen, „an sich selbst zu verzweifeln“.
Für uns heißt das: Wir sollen lernen an der Demokratie
zu verzweifeln:
„Das
lehrt Paulus im Römerbrief, Kap. 14: «Alles, was nicht aus oder
im Glauben geschieht, ist Sünde.»“ (Göttert S. 12)
„Die
Gebote lehren und schreiben uns mancherlei gute Werke vor … Sie
lehren uns, was man tun soll, geben aber keine Kraft dazu. Darum
sind sie nur dazu angeordnet, dass der Mensch in ihnen sein
Unvermögen zum Guten erkennt und an sich selbst zu verzweifeln lernt
… dass wir allesamt Sünder sind und kein Mensch ohne
böse Begierde zu leben vermag, tue er, was er wolle. Daraus lernt
er, an sich selbst zu verzagen und anderswo Hilfe zu
suchen.“ („Von der Freiheit eines Christenmenschen“,
Göttert, S. 107
Sicherlich
nicht zufällig heißt es gleich in der ersten von Luthers 95 noch in
Latein verfassten Thesen in ihrer Übersetzung:
„Unser
Herr und Heiland wollte, indem er sagte «Tut Buße», dass
das ganze Leben der Gläubigen Buße sei.“ (zit. nach „Wenn
Luther in die Kita kommt...“ Eine Arbeitshilfe für
Kindergärtnerinnen, herausgegeben von Andrea Abele, Andreas Lorenz
und Stephanie Vollertsen-Ünsal, Evangelische Landeskirche von
Württemberg, 2016, S. 114)
Das
bedeutet die Verpflichtung zum Unglücklichsein, zum Jammertal statt
zum Dank für unsere Mütter, die uns das Leben schenkten.
Und
schließlich die Widersprüche zu sich selbst. So
heißt es in Matthäus 15,4:
»Du
sollst Vater und Mutter ehren«, und: »Wer Vater oder Mutter
schmäht, der soll des Todes sterben.«“
In
Lukas 14, 25/26 heißt es jedoch:
"25
Es ging aber eine
große Menge mit ihm; und er wandte sich um und sprach zu ihnen:
26
Wenn jemand zu mir kommt und hasst nicht seinen Vater,
Mutter, Frau, Kinder, Brüder, Schwestern, dazu auch sein
eigenes Leben, der kann nicht mein Jünger sein.“
Das
erste tun wir, auch wenn wir keine Christen sind; das zweite tun wir
auch dann nicht, wenn wir Christen sind.
Zu
solchen
offensichtlichen
Widersprüchen kommen dann noch die zahlreichen, um nicht zu sagen
zahllosen Widersprüche in den Auslegungen der
Testamente zwischen
den verschiedenen christlichen Bekenntnissen,
Organisationen
und Theologen
und teilweise
sogar mit sich selbst. So hat Otto
Dibelius
laut
Wikipedia den Krieg gegen Frankreich, also den Beginn des Ersten
Weltkriegs 1914 noch als Kampf
für „die
Siegeszeichen Christi“
propagiert,
ehe
er
1930 in einer Bekenntnisschrift -
im
Widerspruch zur bis dahin geltenden evangelischen Interpretation des
Krieges als „gottgewollt“ -
zu
der Erkenntnis kam:
„Nein.
Krieg soll nicht sein, weil Gott den Krieg nicht will“. Woher
wusste er das?
Woher wusste er jeweils,
was Gott wollte?
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Fazit
Wer
als staatlicher Amtsträger mit der Formel „so wahr mir Gott helfe“
auf das Grundgesetz schwört, der spricht die Unwahrheit, auch dann,
wenn er es nicht weiß, sondern an sie glaubt. Die Bibel steht im
Widerspruch zum Grundgesetz. ‚Gott‘
steht nicht auf dem Boden des Grundgesetzes, wie wir am Beispiel und
Vorbild Luther erkennen können. Er schwebt über ihm, ist nicht zu
fassen, bietet keine Verlässlichkeit zum
Miteinander von
Christen oder Deutschen unter sich wie mit Juden und Anhängern des
Islam.
Wer
auf Gott schwört, dem ist nicht zu trauen, weil niemand verlässlich
sagen kann, was „Gott“ will. Glaubensfreiheit
und „unverhandelbare Werte“ vertragen sich nicht miteinander.
Wenn
es für uns und den Rest der Welt „nicht verhandelbare Werte“
gibt,
dann
können das allenfalls die Menschenrechte und der demokratische
freiheitliche
Staat
als gegenüber religiösen Diktaturen kleineres Übel sein.
Demokratie,
,Zivilcourage und Sitzblockaden sind nichts für fromme Christen, nur
für unfromme.
Deswegen
sollte auch beim Diensteid die Formel „So wahr mir Gott helfe!“
im Dienst der bewusstseinsmäßigen Trennung von Staat und
Kirche unterlassen werden, und die, die sich dem Christentum mehr
verpflichtet sehen als dem Grundgesetz, sollten ein staatliches Amt
gar nicht erst anstreben, wenn sie ehrlich und verlässlich bleiben
wollen.
Auch
sollten, um juristischer dèformation professionelle zu entgehen, zu
deinem Senat des Verfassungsgerichts immer auch ein Soziologe
und ein Politologe, und um christlicher ‚dèformation
professionelle‘ zu entgehen, mindestens ein bekennender Atheist
oder wenigstens Agnostiker gehören.